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Aus: Ausgabe vom 07.05.2024, Seite 6 / Ausland
Aufstieg der Rechten

»Den Kapitalismus bekämpfen ist der einzige Weg«

Serie. Aufstieg der Rechten (Teil 6 von 7): Linksblock in Portugal fordert antifaschistisches Bündnis sowie eine progressive Wirtschaftspolitik
Interview: Carmela Negrete
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Kraftvoll gegen rechts: Protest gegen einen rassistischen Aufmarsch am 6. April in Porto

Am 9. Juni wird das EU-Parlament neu gewählt. Das nehmen wir zum Anlass für eine Serie, die sich mit dem Aufstieg extrem rechter Kräfte in Europa beschäftigt. Die siebenteilige Reihe erscheint in Zusammenarbeit mit der dänischen Zeitung Arbejderen, der schwedischen Proletären und dem britischen Morning Star. Die Beiträge werden in allen vier teilnehmenden Zeitungen veröffentlicht, nachfolgend ein Interview von Carmela Negrete für junge Welt. (jW)

Nach acht Jahren linker Regierungsbeteiligung haben Luís Montenegro und sein Kabinett am 2. April den Amtseid als neue Mitte-rechts-Regierung Portugals abgelegt. Die nötige Mehrheit von 116 Sitzen verfehlte Montenegros Lager allerdings deutlich. Wieso gab es überhaupt vorgezogene Neuwahlen?

Die Mehrheit des Partido Socialista, PS, steckte am Ende in einer politischen Sackgasse, ohne einen Ausweg zu haben. Das gilt für das Gesundheitswesen ebenso wie für den Bildungssektor, das Wohnen oder die Inflation. Es gab verschiedene Sektoren mit sich häufenden Protesten und keinen Weg nach vorne. Die Skandale, die von der Justiz derzeit untersucht werden, sind real. Wir im Bloco de Esquerda hatten die klare Auffassung, dass die Regierung mit ihrer Mehrheit nicht bis zum Ende der Legislatur durchhalten würde. Das bestätigte sich dann ja auch, wie wir heute sehen. Wir hätten lieber nicht recht gehabt.

Was konnte die abgewählte Regierungskoalition, die vom Bloco und der Kommunistischen Partei Portugals, PCP, unterstützt wurde, erreichen?

Wir konnten die Gehälter und Renten sowie die Feiertage wiederherstellen, die von der Troika (EU-Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds, jW) gekürzt worden waren. Gleiches gilt für die Fortschritte im Sozialstaat: kostenlose Schulbücher, das Ende der Zahlung für den Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Reduzierung der Studiengebühren und günstigere öffentliche Verkehrsmittel. Es war eine Zeit, in der die Menschen das Gefühl hatten, dass sich ihr Leben verbesserte. 2019 hatte deshalb der PS die Wahlen mit einer Mehrheit gewonnen, und wir schlugen einen neuen Pakt vor. Doch der PS wollte nur noch von Fall zu Fall mit uns verhandeln. Die Kommunistische Partei akzeptierte. Wir hatten einige Meinungsverschiedenheiten, aber am Ende sah auch der PCP ein, dass die Politik des PS zu dieser Zeit keinen Unterschied zu der Politik der Rechten machte.

In welchem gesellschaftlichen und politischen Klima geschah das alles?

Es war mitten in der Pandemie, mit maximalem Druck. Der Partido Socialista hatte eine absolute Mehrheit, doch keinen Plan für das Land. So finden wir uns in der Situation wieder, dass wir eine traditionelle Rechtsregierung in der Minderheit haben und eine extreme Rechte mit 18 Prozent – ein Ergebnis, das vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten worden wäre.

Wenn wir den Bevölkerungen keine weiteren Perspektiven bieten, werden sie nach Veränderung verlangen. Die Rechten sind international als quasi natürliche Macht für diesen Wandel aufgetreten. Portugal ist ein Land, das in einem Irrtum lebt: Die Verfassung besagt, dass wir uns auf dem Weg zum Sozialismus befinden. Die Regierungspartei hatte sich als sozialistisch bezeichnet. Aber Portugal ist das Land mit den wenigsten öffentlichen Wohnungen in Europa, auch Waldeigentum ist komplett privat. Alle strategischen Wirtschaftsbereiche wurden privatisiert, einschließlich der Post. Die Anzahl der von einem Tarifvertrag erfassten Arbeiterinnen und Arbeiter ist minimal. Wir leben in einer patriarchalen und zutiefst rassistischen Gesellschaft, die es diesen rechten Kräften ermöglicht, solche Ergebnisse zu erzielen.

Sie kandidieren für die Allianz ­Bloco de Esquerda zur EU-Wahl am 9. Juni. Sind diese Wahlen anders?

Sie sind sehr wichtig für die wirtschaftliche Antwort auf die Probleme. Obwohl Portugal weit weg vom Krieg (in der Ukraine, jW) ist, spüren die Portugiesen die Inflation. Wenn die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöht und es keine demokratische Instanz dabei gibt, ist das die falsche Politik, und sie muss sich ändern. Wir müssen wählen, ob wir ein Europa wollen, das die Konzerne füttert, oder eines, das den Menschen Antworten gibt. Bei der Klimakrise steht buchstäblich unser Leben auf dem Spiel. Und wenn wir nicht in der Lage sind, eine Wirtschaft aufzubauen, die auf die Bedürfnisse der Menschen reagiert, wird es keine Zukunft geben. Aktuell ist dies der große Kampf, und die EU-Wahlen sind sehr wichtig, um die Prioritäten der Politik zu ändern. Zu viele Banken wurden bereits gerettet; jetzt rettet man die deutsche und französische Rüstungsindustrie.

Welche Rolle hat die EU in der portugiesischen Wirtschaft gespielt?

Sie haben uns zu einem Dienstleistungsland für wohlhabende Touristen gemacht. Unsere am besten ausgebildeten Generationen haben oft nur eine Zukunft im Ausland. Sie wandern in die Mitte und den Norden Europas für höhere Gehälter aus, verdienen dort aber oft weniger als die Menschen in diesen Ländern.

Der Tourismus führt auch dazu, dass die Mieten beispielsweise in Lissabon unerschwinglich werden.

Ja, er verursacht zwei Probleme: Er hängt von niedrigen Löhnen im Inland ab und davon, dass Menschen aus dem Ausland mit höheren Einkommen hier ihr Geld ausgeben können. Das Ergebnis ist eine unmögliche Situation, Löhne unten und Mieten oben – eine Katastrophe. Auch deshalb ist es notwendig, im Kampf gegen die extreme Rechte klar zu sein. Ein antifaschistisches Bündnis ohne Wirtschaftspolitik, die das Leben der Menschen verbessert, wird nichts bewirken. Eher noch wird dann die extreme Rechte weiter wachsen. Den Kapitalismus zu bekämpfen ist der einzige Weg, die extreme Rechte zu besiegen!

Wie ist die Situation der ärmeren Portugiesen?

Die ärmeren Menschen Portugals sind derzeit diejenigen, die von außerhalb kommen. Wir haben eine Landarbeiterbevölkerung aus Nepal und aus Pakistan, die sehr schlecht lebt. Sie arbeiten viele Stunden unter Bedingungen, die Zwangsarbeit ähnlich sind. Dann haben wir die, die in Portugal geboren wurden und immer dort gelebt haben, die Gehälter von rund 800 Euro haben. Deren Mieten liegen aber bei 800 Euro oder mehr im Monat. Es ist sehr einfach, den Armen zu sagen, dass die Schuld bei den Elenden liegt. Das ist, was die extreme Rechte tut, und das führt dazu, die Situation noch weiter zu komplizieren. Aber Portugal hatte bereits vorher ein Problem mit Rassismus, insbesondere unter den Polizeikräften.

Vor dem Hintergrund der erstarkenden Rechten feiert die Linke 50 Jahre Nelkenrevolution.

Es ist gut, den 25. April zu feiern, denn die Menschen haben das Bedürfnis danach. Nach den Wahlen waren bei allen Veranstaltungen, sogar in Schulen, in Dörfern, alle Auditorien voll. Und Demonstrationen, die normalerweise klein gewesen wären, zählten viele Teilnehmende. Die Menschen wollen auf die Straße gehen und diskutieren. Es ist notwendig, dieses Jubiläum mit großer Kraft zu feiern, weil wir uns daran erinnern müssen, dass die Stärke der Demokratie nicht nur darin besteht, alle vier Jahre abzustimmen. Sie ist die Macht des Volkes, das eigene Schicksal zu ändern und mehr Gerechtigkeit im Leben zu erreichen.

Catarina Soares Martins ist Spitzenkandidatin für die EU-Wahl der portugiesischen linken Allianz Bloco de Esquerda. Sie war von 2012 bis 2023 deren nationale Koordinatorin.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Jürgen Z. aus Lisboa (Lissabon), Portugal (6. Mai 2024 um 21:46 Uhr)
    Der Kampf gegen die Rechtswende in Portugal ist absolut wichtig. Der Bloco de Esquerda ist dabei wichtig, aber keineswegs die einzige maßgebliche Kraft. In dieser Serie dieser politischen Kraft (Bloco de Esquerda - BE) das Monopol der Einschätzung der Lage zu überlassen, ist sektiererisch. Ich kämpfe seit Jahrzehnten in der Portugiesischen Kommunistischen Partei (PCP), bei Wahlen im Zusammenhanhmg mit dem Bündnis CDU (Coligação Democrática Unitária - Kommunisten und Grüne), für die Verteidigung der Errungenschaften des 25. April und bin als überzeugter Anhänger der jW zutiefst enttäuscht über eure Portugal-Berichterstattung. Denkt mal bitte darüber nach! Lonha Heilmair, Lisboa, Portugal.

In der Serie Aufstieg der Rechten:

Die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind am 9. Juni aufgerufen, das EU-Parlament neu zu wählen. Aus diesem Anlass berichtet die junge Welt vom Aufstieg extrem rechter Kräfte in verschiedenen europäischen Ländern. Im Rahmen dieser Serie werden sowohl Artikel als auch Interviews und Analysen veröffentlicht.

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