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Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 10 / Feuilleton
Rock

Heftighübsche Heterotopie

Das Schöne ist nicht tot, es tobt: »Coup de Grâce« von See You Space Cowboy
Von Ken Merten
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Die Decadénce steht ihnen gut: Connie Sgarbossa (M.) und der Rest vom Fest

Die Pose im Pop ist mindestens so wichtig wie der Pop, die Musik, selbst. Michael Jackson? Keine Ahnung, Alter. Ach, der sich immer mit dem weißen Handschuh in den Schritt gegriffen hat, ja, klar! So abseitig die Inszenierung auch sein mag und mal positiv als camp angenommen wird, mal zur Belustigung herhält, stets geht mit der Haltung einher, dass sich der Mensch selber einrichten und sich im gesteckten Rahmen für eine Position – und sei es die der Haarnadel – entscheiden kann.

»This fire started with the smallest spark, we’ll fall apart / To the dance floor for shelter / A pose of passion to ignite the start, as hopes depart / It’s never-ending«, so der Kehrreim im Lob der Tanzfläche als Unterschlupf. Eine Aufforderung zum Schwof von See You Space Cowboy, der Courtney LaPlante (Ex-Iwrestledabearonce, seit 2016 Sängerin von Spiritbox) folgte. Mit »Coup de Grâce« haben See You Space Cowboy nicht nur den großen Saal, sondern auch die körperwarmen Hinterzimmer der Cabarets geöffnet, neben Metalcore’s Finest LaPlante füllen diese Selfcare-Rapper Nothing,Nowhere., Aussie-Alternative-Artist Kim Dracula und das Synthwaveprojekt iRis.EXE, um gemeinsam effektive Verfremdung zu betreiben.

2016 wurde See You Space Cowboy von den Geschwistern Connie und Ethan Sgarbossa gegründet und seitdem zehrt die Sasscoreband aus dem kalifornischen San Diego vom Popposenreichtum so ausgiebig wie sie ihn mehrt. Ihr zweites Album, »The Romance of Affliction« (2021), war schon ein Griff in die Schmuckschatulle des Mathcore, selten so gehört, seit sich 2011 Drop Dead, Gourgeous auflösten und das Subsubsubgenre allgemein zum Rückzug blies. Das zum Umfallen Schöne aber ist nicht tot, es tobt: Die Decadénce, schillernd am Randesrande dem Abgrund was vortanzen, steht ihm nicht schlecht; denn anders als bei Drop Dead, Gourgeous haben See You Space Cowboy wenig Ambition dazu, sich dem selbstgeschaffenen Kuddelmuddel zu fügen. Stattdessen wird das Arrangement addiert: »Coup de Grâce« lässt mit allem, was sich zwischen Screamo und Poppunk à la Fall Out Boy so findet, das stets »on sleeve« getragene Emoherz höher schlagen. Ein Gnadenstoß wie ein Reanimationsversuch.

»Allow Us to Set the Scene« ist als Opener genau das: die divenhafte Einführung durch iRis.EXE in die burleske, verschwenderisch drappierte Szene, »A maze of alleys and havens for the delightful and depraved as our concrete backdrop«. Promiskuitiv geht es dann nicht nur in den Musikvideos zu, wo im Zwischenweltkriegschic jeder mit jedem, alle mit allen und die Kleiderordnung wenig auf Geschlecht, viel aber auf Noir Wert legt. Musikalisch ist das Album im Vergleich zum Vorgänger gleichermaßen eingängiger und experimenteller. Collagen aus hymnischen Refrains und hektischen Strophen mit kakophon-modelliertem Groove kennt man vielleicht von Under­oath der nuller Jahre. LaPlantes Tenörinnensolo in »To the Dancefloor for Shelter« aber weist weit über das hinaus, was üblicherweise durch den Skatepark schallt. Zur Melange aus Melancholie, Pathos und Technizismus sprudeln postpunkige Partyhymnen mit dominantem Bass; ein Hinweis, dass man mit Ernst allein nicht bei der Sache bleibt, mit »Lubricant Like Kerosene« schlüpfrig betitelt, zumal konterkarierend, ist das Gleitmittel doch dazu da, dass es möglichst nicht brennt, na ja, außer in den Köpfen derer, die Sodom & Gomorrha angezündet hätten, wenn ihnen ihr Herr nicht zuvorgekommen wäre.

Zwei Wochen nach Fertigstellung von »The Romance of Affliction«, einem Album, das sich mit dem Umgang mit Sucht beschäftigte, konsumierte Sängerin Connie Sgarbossa in Suizidabsicht eine Überdosis. Weg von dem harten Zeug ist »Coup de Grâce« auch ein Reanimationsversuch: weniger Drogen, mehr postbinärer Ringelpiez im vergänglichen Ambiente der Dauerfete. Das Cabaret, in dem auch trans Personen wie die Sängerin von See You Space Cowboy nicht von vornherein mit Ausgrenzung rechnen müssen, ist die heftighübsche Heterotopie, in der »Coup de Grâce«, jetzt schon eine der besten Shows des Metalcore in diesem Jahr, stattfindet.

See You Space Cowboy: »Coup de Grâce« (Pure Noise)

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