junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 18. / 19. Mai 2024, Nr. 115
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 06.05.2024, Seite 4 / Inland
Kampf für Meinungsfreiheit

Wie Inquisitionskommandos

Berlin: Diskussion in jW-Maigalerie über Kampagnen gegen Palästina-Solidarität. Verfahren wegen Kongressverbot könnte Jahre dauern
Von Annuschka Eckhardt
3.jpg
Stefan Huth, Johannes Fehr, Ferat Koçak, Benjamin Düsberg und Wieland Hoban (v. l. n. r.) in der Maigalerie (Berlin, 4.5.2024)

Trotz sonnigen Wetters war die junge Welt-Maigalerie in Berlin-Mitte am Sonnabend nachmittag gerappelt voll. Rund 80 interessierte Junge und Alte nahmen an der Veranstaltung »Die Heimatfront begradigen: Grundrechte schleifen! – Wer verteidigt die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit?« teil. Die Liveübertragung im Internet verfolgten Zuschauerinnen und Zuschauer an insgesamt 645 gezählten Endgeräten.

Die Auflösung des »Palästina-Kongresses«, der vom 12. bis 14. April in Berlin stattfinden sollte, durch die Polizei ist der vorläufige Höhepunkt der Repression gegen die Solidarität mit den Menschen in Gaza gewesen. Der Staat greift zu immer drastischeren Mitteln, um oppositionelle Stimmen mundtot zu machen – schließlich gilt es, die Gesellschaft der »Zeitenwende« kriegstüchtig zu machen. Um über diese Zensur zu sprechen, lud der Verlag 8. Mai, in dem diese Zeitung erscheint, zur Diskussion.

Auf dem Podium sprachen Wieland Hoban, Vorsitzender des Vereins »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, der den »Palästina-Kongress« mitveranstaltete und daher während des Kongresses als erster Ansprechpartner für die Berliner Polizei fungierte. Der Anwalt Benjamin Düsberg, der viele mit Strafen überzogene Demonstrationsteilnehmer vertritt, ordnete das Verbot des Kongresses sowie andere Einschränkungen des Versammlungsrechts juristisch ein. Ebenfalls dabei war Ferat Koçak, Sprecher für antifaschistische Politik der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus, der als parlamentarischer Beobachter während der Räumung des Palästina-Camps vor dem Bundestagsgebäude unterwegs war. Neben ihnen saß am Sonnabend Johannes Fehr, Kandidat der Partei MERA25 Deutschland für die EU-Wahl am 9. Juni, die den Kongress mitveranstaltet hatte. Die Diskussion moderierte junge Welt-Chefredakteur Stefan Huth.

Vor dem Palästina-Kongress war das Konto der »Jüdischen Stimme«, auf dem Spenden für die Veranstaltung gesammelt wurden, von der Berliner Sparkasse eingefroren worden. Hoban erklärte es somit zu einem »kleinen Sieg«, dass der Kongress überhaupt beginnen konnte. Das Publikum quittierte dies mit Erheiterung. Doch Hoban meinte das »sehr ernst«. Die Fülle der Repressionsaktionen und der medialen Diffamierung – B. Z. beispielsweise titelte »Israelhasser-Kongress: Diese Terror-Fans treten heute in Berlin auf« – sei wie ein Inquisitionskommando gegen »versteckten Antisemitismus«, ein dehnbarer Kampfbegriff der Bürgerlichen. Die Deutschen, die die größten antisemitischen Verbrechen der Geschichte begangen haben, wollten jetzt entscheiden, was Antisemitismus ist.

Anwalt Düsberg betonte, dass die Entscheidung, ob das Vorgehen gegen den Kongress rechtswidrig gewesen sei, beim Verwaltungsgericht liege. Auf ein Ergebnis könne man »locker drei Jahre warten«, dann »interessiere das niemanden mehr«. Das »Schleifen der Grundrechte« beruhe auf einem »Freund-und-Feind-Denken« und an der »Instrumentalisierung der Staatsräson als Repressionsapparat«. Auf die Frage, wie jener »versteckte Antisemitismus« mit Rassismus gegen Muslime und muslimisch gelesene Menschen zusammenhängt – und was das Interesse der BRD dahinter ist –, antwortete Düsberg gegenüber jW: »Ich gehe davon aus, dass der sogenannte versteckte Antisemitismus der innenpolitisch wichtigste Punkt und Subtext dieser Debatte ist.«

Der Begriff ergebe »tatsächlich wenig Sinn«, weil das meiste, was darunter verstanden wird, sich tatsächlich mit der Besatzungssituation in Israel/Palästina auseinandersetzt. »Wenn aber diese Thematik im Innenpolitischen dann als versteckter Antisemitismus bezeichnet wird und gegen Personen in Anschlag gebracht wird, die hier als Migranten gelesen werden, dann ist die Funktion dahinter letztlich das Vertiefen der Ausgrenzung.« Anders als die AfD kleiden die bürgerlichen Parteien das Düsberg zufolge in eine liberale oder antifaschistische Begründung nach dem Motto »Weil ihr Antisemiten seid, gehört ihr nicht dazu.«

Ein Mitschnitt der Veranstaltung wird demnächst auf den Onlinekanälen von junge Welt verfügbar sein

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (13. Mai 2024 um 12:46 Uhr)
    Inzwischen hat jW dankenswerterweise den Vortrag von Abu Sitta veröffentlicht, dem auf dem Palästina-Kongress der Strom abgedreht worden war. So werden die Gründe für das Kongress-Verbot zumindest nachvollziehbar, auch wenn Fragen bleiben. Natürlich kann man den Gaza-Streifen unmöglich als »Konzentrationslager« bezeichnen. Seit der Nazi-Zeit steht dieser Begriff für die unvergleichliche Vernichtung etwa in Auschwitz und Buchenwald, von der in Gaza trotz der ungeheuren Brutalität des israelischen Vorgehens nicht entfernt die Rede sein kann. Gleichwohl muss man fragen, warum deutsche Politiker dann 1999 von Konzentrationslagern im Kosovo schwafeln durften, die es dort in Wirklichkeit gar nicht gab. Die kleinen hängt man und die großen lässt man laufen? Problematisch ist auch Abu Sittas Ausführung, dass es für das Geschehen in Gaza »nichts Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit« gebe, auch wenn er gerade noch die Kurve bekommt und paar Sätze später die Vergleichbarkeit einzig auf die Medienpräsenz bezogen wissen will. Auch das bleibt zwar falsch, aber im Rahmen der Berichterstattung zum Ukraine-Krieg, die ja ebenfalls den Krieg in Osteuropa als ersten in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wertete, als ob die Kriege in Jugoslawien oder gegen Zypern nie stattgefunden hätten. Noch mal wäre zu fragen, warum man die eine Falschheit toleriert, die gleichartige andere aber inkriminiert. Hängt das mit der treffenden Schilderung der Zeitabläufe der Nakba durch Abu Sitta zusammen, die die hier oft zu lesende Erzählung von der Grundlosigkeit des Angriffs der arabischen Staaten Mitte Mai 1948 auf Israel relativiert? Abu Sittas Ansicht, mit der Rückkehr der Palästinenser wäre »Gerechtigkeit hergestellt, die Bestand hat« ist zumindest blauäugig, denn mit der neuen ungeheuren Gewalt ist viel Hass neu gesät worden, der Lösungen des Palästinakonfliktes erneut erschwert.

Ähnliche: