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Aus: Ausgabe vom 27.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Aufstandstheorien

»Müssen viel Schrott wegräumen«

»Gezeiten der Revolte«: In einer Veranstaltungsreihe tragen Protagonisten »Splitter und Scherben« vergangener Aufruhre zusammen. Ein Gespräch mit Sebastian Lotzer
Von Oliver Rast
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Feierlustige Selbstversorger auf Streifzug: US-Präsident und B-Movie-Held Ronald Reagan gastierte in Westberlin (11.6.1987)

Die Veranstaltungsreihe, die Sie mitorganisiert haben, heißt »Gezeiten der Revolte«. Der poetisch anmutende Titel irritiert, zumal Gezeiten periodische Meeresbewegungen bezeichnen. Was hat das mit sozialen Eruptionen zu tun?

Nun, Aufruhr und Widerstand sind gewissermaßen Wellenbewegungen, die sich alle vier, fünf Jahre Bahn brechen. Sie lassen sich nicht voraussagen, nicht planen, treten unerwartet ein. Zwei Beispiele: Niemand wird mit Sicherheit sagen können, warum der politisch-kulturelle Aufbruch gerade 1968 passierte, oder die Instandbesetzerbewegung etwa in Westberlin Anfang der 80er Jahre ausbrach. Und wenn ein Revolutionsmodell quasi geplant exportiert werden sollte, dann endete das in einer Katastrophe. Erinnert sei an Che Guevara, der nach der kubanischen Revolution zunächst im Kongo, dann in Bolivien scheiterte. Tödlich.

Der Ankündigungstext zur Reihe liest sich wie eine Anklageschrift gegen eine »Linke«, die vor allem eines schafft: zu versagen.

Stimmt. Was tatsächlich fehlt, ist der Antagonismus, die »grundsätzliche Gegensätzlichkeit«, wie wir es nennen. Deutlich geworden etwa während der Coronakrise. Zahlreiche Linke überboten sich förmlich in staatstragenden Bekenntnissen, setzten der autoritären Formierung nichts entgegen, schwiegen zum Wahnsinn des Ausnahmezustands samt Staatsfaschisierung. Und in Abgrenzung zu dieser Linken haben Genossen vor allem in Italien und Frankreich, aber auch andernorts längst neue Aufstandstheorien entwickelt …

in denen rebellisches Potential vermutet werden könnte?

Der repressive Zug gegen Deklassierte, gegen das überflüssige Proletariat, das Surplusproletariat setzt Kräfte frei. Dissidentes Verhalten, erkennbar in den Riots im Juni 2020 in der Stuttgarter Innenstadt oder zu Silvester der beiden vergangenen Jahre in Neukölln. Das Motiv dabei: ein Stück vom Leben zu bewahren, dafür in der Nacht zurückzuschlagen. Und, ganz wichtig, das ist keine ziellose Randale. Darin drückt sich ein neuer Klassenwiderspruch aus. Nach dem Motto, wenn wir schon keine Macht haben, holen wir uns wenigstens die Auslagen hinter den Warenhausscheiben. Es ist das Beste an Protest von heute. Aber richtig, die kollektive Vorstellung von dem, wie der Zustand der Barbarei aufzuheben ist, fehlt. Bloß, wer hat die schon.

Wohl wahr, aber wo bleibt die Perspektive?

Vielerorts haben wir es mit sogenannten Non-Bewegungen zu tun. Es ist ein tiefer historischer Bruch zum Bestehenden, der sich darin zeigt, der nicht mehr zu kitten ist. Eine reformistische Integration ins System ist nicht mehr möglich. Dabei haben die Protagonisten kein Programm, sie erheben keine Forderungen, von Existentiellem wie Brot und Freiheit abgesehen. Fakt ist, alle Aufstände reichen bis zu einem bestimmten Punkt und stehen dann vor der Entscheidung: entweder der Sprung ins Ungewisse oder Stillstand, Rückzug.

Nochmals zur Veranstaltungsreihe. Beim Abschlusspodium geht es um die Geschichte des bewaffneten Kampfs in der BRD. Also um die Zeit von den 70er bis zu den 90er Jahren. Wollen Sie olle Kamellen aufwärmen?

Wir haben mit der Festnahme von Daniela Klette einen aktuellen Aufhänger. Außerdem gibt es einen Brückenschlag zu den gesuchten und untergetauchten Antifas aus dem »Budapest-Komplex«. Aber natürlich ist es wichtig, sich die eigene Widerstandsgeschichte zu vergegenwärtigen, was gedacht, geschrieben, getan wurde. Klar, vieles liegt nur in Splittern und Scherben vor uns, und wir werden viel Schrott wegräumen müssen.

Sage ich doch, Geschichtchen aus dem linksradikalen Paulanergarten.

Quatsch. Es geht nicht drum, das Publikum mit Anekdoten von oben zu beschallen. Wir sind in einer Art Suchbewegung, Diskussionen anstoßen, Standpunkte abklopfen, vielleicht auf Sicht praktisch intervenieren. Wer weiß …

Stichwort Praxis. Davon erzählen Sie in Ihrem Buch »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz«, einem kleinen Bestseller, aus dem Sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe lesen werden. Wie lässt sich Rebellentum am ehesten literarisch vermitteln?

Mich haben die Romane von Nanni Balestrini besonders beeinflusst, wie er erzählt, wie er seine Leser in eine Welt entführt, in der sich die Wut der Unangepassten entlädt. Das Gefühl, selber dabei zu sein, in einer einfachen, direkten Sprache Atmosphäre zu schaffen, ganz im Sinne der Oral History.

Sebastian Lotzer ist Mitorganisator von »Gezeiten der Revolte« und Autor des Buches »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz« (Bahoe Books)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (28. April 2024 um 22:36 Uhr)
    Zitat: »Und, ganz wichtig, das ist keine ziellose Randale« plus »Es ist das Beste an Protest von heute«. Genau solche Aussagen des Interviewten sorgen dafür, dass die Menschen, die wir überzeugen müssten (Der/die normale Arbeiter/Angestellte) beim Lesen dieser Zeilen maximal gähnen oder die Augen verdrehen – zu Recht. Wenn es keine ziellose Randale war – welches Ziel bzw. Konzept hatten dann die Angriffe auf Feuerwehr und Rettungswagen? (Polizei bewusst ausgeklammert.) Wurden geplünderte Güter à la Störtebecker und Robin Hood an die Obdachlosen, Flüchtlinge, Verarmten verteilt? Es ist völlig naiv zu glauben, dass jeder Krawall hochpolitisch und »links« ist – für viele ist es einfach nur Spaß. Zumal sie wissen, dass der Rettungswagen, den sie erst mit Steinen bewarfen, sie dann ja doch versorgen muss. Aber die dort und anderswo Beschäftigten sind ja nur verachtenswerte Spießer. Die meisten Linksradikalen sind weltfremde Spinner und Egozentriker – und würden wohl auch die Proletarier der KPD in der Weimarer Republik gering schätzen.

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