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Aus: Ausgabe vom 16.04.2024, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Bitte nicht aufräumen

Etwas Neues schaffen: Michael Kliers Film »Zwischen uns der Fluss«
Von Ronald Kohl
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Etwas hat sich verändert: Alice (Lena Urzendowsky, l.) und Cam (Kotti Yun)

Ihr erster Hungerstreik liegt zehn Jahre zurück. Da war Alice (Lena Urzendowsky) gerade mal zwölf. Ihr Kampf galt dem Erhalt einer seit Jahrhunderten in dem Biotop Dresdener Elbwiesen ansässigen Fledermauskolonie. Wobei es schwierig ist zu sagen, was schwerer wog, der Einsatz für die Natur oder der Widerstand gegen ihren Vater, der als Architekturprofessor eine Bebauung der Wiesen in Gang setzen wollte.

Jetzt studiert Lena zwar selbst Architektur, schießt jedoch noch immer gegen die Vorhaben ihres Vaters quer und kloppt sich auch mal auf der Demo mit der Polizei. Zwei Monate Sozialdienst hat sie dafür aufgebrummt bekommen. Von der psychiatrischen Einrichtung, in der sie ihre Stunden abreißt, bekommen wir nur die Leiterin und eine infolge eines rassistischen Überfalls traumatisierte Patientin zu sehen.

Cam (Kotti Yun) ist zwar Vietnamesin, kommt aber aus Berlin. Das findet Lena, die sich um Cam stundenweise kümmern muss, auf eigene Faust im Internet heraus, denn Cam weigert sich zu sprechen. Seit dem Übergriff sträubt sie sich zu gehen, bis ihr Lenas Unvermögen, sie in den Rollstuhl zu verfrachten, zuviel wird. Nachdem die beiden gemeinsam zu Boden gegangen sind, rappelt Cam sich auf und geht einfach los.

Bei ihrem nächsten Besuch versucht Lena, die Zügel ein bisschen anzuziehen. »Das mit dem Nicht-Gehen-Können hast du ja nicht sehr lange durchgehalten. Ich bin mal gespannt, wie lange es dauert, bis du anfängst zu reden.« Cam, die angekleidet im Bett liegt, starrt weiterhin wortlos die Decke an. Doch so schnell gibt sich Lena nicht geschlagen: »Glaubst du eigentlich, dass du überfallen wurdest, weil du Ausländerin bist? Oder weil du eine Frau bist? Oder beides?«

Regisseur Michael Klier hat mit »Zwischen uns der Fluss« einen Film geschaffen, der vor allem in einer Hinsicht die Fortführung seines bisherigen Werkes darstellt: unbegrenzte Entfaltung des schauspielerischen Potentials. Inhaltlich wollte er etwas Neues schaffen, junge Menschen im Hier und Jetzt zeigen, 2023. Neben Drehbuchautorin Karin Aström ließ er auch die beiden jungen Schauspielerinnen auf die Gestaltung der Dialoge Einfluss nehmen. Vielleicht haben sie dabei auch nur weggestrichen, was sie für überflüssig hielten, denn besonders aufwühlend wirkt ihr Spiel immer dann, wenn das große Schweigen herrscht. Es sind zwei Charaktere, für die das Alleinsein so sehr zur Gewohnheit geworden ist, dass jede Form von Nähe auf die Dauer erdrückend wirken muss. Cam beendet deshalb die Beziehung zu ihrem langjährigen Freund, als der von der Gründung einer Familie spricht.

Als vor 15 Jahren Michael Kliers Film »Alter und Schönheit« in die Kinos kam, hat der Regisseur, der mittlerweile über 80 Jahre alt ist, festgestellt, bei den Männern in seinem engeren Freundeskreis gebe es eine große Sehnsucht nach Unbekümmertheit. Mit Alice hat er nun eine Heldin kreiert, für die ein sorgenfreies Leben so selbstverständlich ist, dass sie sich ihrer Unbekümmertheit kaum erfreuen kann. Sie wirkt ewig mürrisch, obwohl sie bequem und gemütlich in einem Villenviertel lebt, ihr in ihrem Haus, das von den Eltern finanziert wird, niemand auf den Geist geht und sie einen Freund hat, der sie liebt und den sie nach Belieben empfängt und wieder fortschickt.

Als Cam, die es in der Einrichtung nicht mehr ausgehalten hat, erfährt, dass ihr die Wohnung gekündigt ­wurde, darf sie bei Alice einziehen. Beide Frauen sind intelligent genug, um zu wissen, dass diese Lösung nur vorübergehend funktionieren kann. Dennoch genießen sie ihre gemeinsame Zeit. Sie erleben das erste Mal in ihrem Leben Freundschaft. Das behaupte ich jetzt mal, denn sonst hätte es schon nach zwei Tagen gekracht. So heißt es nur: »Hör bitte damit auf, hier aufzuräumen.«

»Zwischen uns der Fluss« legt als Titel fest, wie grundsätzlich diese beiden Leben voneinander getrennt bleiben werden, auch wenn es eine ­Fähre von Laubegast rüber zum Weißen Hirsch gibt oder wo auch immer das in Dresden spielen mag. Und auch wenn diese Fähre eines Tages mal absaufen oder auf Dauer eingespart werden sollte, wird Alice immer auf Cam warten. Es hat sich etwas verändert, auch in uns, Fluss hin oder her.

»Zwischen uns der Fluss«, Regie: Michael Klier, BRD 2023, 94 Min., bereits angelaufen

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