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Aus: Ausgabe vom 19.04.2024, Seite 15 / Feminismus
Vorkämpferinnen

Rebellion auf zwei Rädern

Teilnahme erkämpft: Vor 100 Jahren fuhr Alfonsina Strada als einzige Frau den Giro d’Italia
Von Kai Böhne
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Durchsetzungswille und ein bisschen Trickserei: Alfonsina Strada beim 1924er Giro d’Italia

Neben der Tour de France und der Vuelta a España gehört der Giro d’Italia weltweit zu den bedeutendsten Länderrundfahrten des Straßenradsports. Seit 1909 wird er alljährlich im Mai ausgetragen. Die wechselnde Streckenführung führt durch Italien und das angrenzende Ausland. Bis in die 1960er Jahre startete das Rennen in Mailand, dem Hauptsitz der Tageszeitung Gazzetta dello Sport, die den Wettstreit als Werbeaktion initiiert hatte. Rund acht Jahrzehnte war der Giro eine reine Männerdomäne. Erst 1988 etablierte sich parallel zum Straßenrennen der Männer ein nur von Frauen gefahrener Giro d’Italia Donne, der zwei Monate später ausgetragen wird.

Doch vor 100 Jahren, im Mai 1924 gab es eine Ausnahme: Alfonsina Strada, Tochter eines Landarbeiters, hatte sich als eine von 90 Teilnehmern angemeldet. Mit der Startnummer 72 war Strada die einzige Frau, die jemals bei einem Giro d’Italia der Männer startete. Nur 30 Fahrer erreichten nach über 3.600 strapaziösen Kilometern, verteilt auf zwölf Etappen – mit vielen verheerenden Stürzen, unzähligen Reifenschäden und steinigen Schotterpisten – am 1. Juni 1924 das Ziel in Mailand, zu ihnen gehörte auch Alfonsina Strada. Ihr Erfolg als erste und einzige Frau, die das Etappenrennen durchstand, machte sie zu einer legendären Heldin in der Geschichte des italienischen Sports. Sie wurde zum Symbol der weiblichen Emanzipation, die sich beharrlich den traditionellen Geschlechternormen der damaligen Zeit widersetzte. Die italienische Post erinnerte im März mit einer Sondermarke an den 100. Jahrestag der erfolgreichen Teilnahme der überragenden Ausnahmeathletin am Giro d’Italia.

Weil sich die Radsportlerin als Alfonsin Strada zum Rennen eingeschrieben hatte, war nicht sofort aufgefallen, dass sie eine Frau war. Doch ihr Geschlecht wurde noch vor dem Start bekannt. Einige der männlichen Fahrer weigerten sich daraufhin, gegen eine Frau zu starten. Der Veranstalter köderte die zusagenden Teilnehmer, indem er versprach, die Kosten für die Unterkünfte am Etappenziel zu übernehmen und Verpflegung zur Verfügung zu stellen: 600 Hühner, 750 Kilogramm Fleisch, 4.800 Bananen, 720 Eier, 300 Kilo Kekse, 120 Kilo Schokolade, 2.000 Flaschen Mineralwasser, Marmelade und Obst wurden zugesagt. Strada durfte das Rennen mitfahren.

Für die Vermarktung des Rennens und die Reportagen in den Sportmagazinen waren die konträren Meinungen und Standpunkte, die zwischen Ablehnung und Verehrung gegenüber Strada schwankten, durchaus förderlich. Auf der ersten Etappe von Mailand nach Genua erreichte sie als 74. die Hafenstadt. Nach dem Start in Genua überfuhr sie als 56. von 65 die Ziellinie in Florenz. Ein Wetterumschwung brachte strömenden Regen, die unbefestigten Straßen wurden matschig und waren von herabgestürzten Steinen übersät. Strada stürzte häufig, viele andere auch. Als ihr Lenker auf der achten Etappe von L’Aquila nach Perugia brach, ersetzte sie ihn durch einen Besenstil. Mit Durchhaltewillen kämpfte sie sich ins Ziel, überschritt aber das Zeitlimit. Deshalb sollte sie zunächst vom Rennen ausgeschlossen werden. Doch weil sie das Publikum anzog und die Journalisten über sie schrieben, ließ sie der Veranstalter außerhalb der Wertung weiterfahren.

Am Ende der zehnten Etappe von Bologna nach Fiume, die Strada nur unter Schmerzen und Erschöpfung durchstand, wobei sie abermals das Zeitlimit überzog, wurde sie von einer Menschenmenge vom Rad gehoben und getragen. Dieser enthusiastische Empfang motivierte sie, bis zum Ziel in Mailand durchzuhalten. Das entbehrungsreiche Durchstehen dieses Giros steht exemplarisch für ihr gesamtes, außergewöhnliches Leben, in dem sie viele Hindernisse zu überwinden hatte. In Italien ist Alfonsina Strada bis heute unvergessen: In Mailand wurde eine Straße nach ihr benannt. Die Musiker der Band Tête de Bois widmeten ihr die gefühlvolle Ballade »Alfonsina e la bici«, ein Kinderbuch würdigt sie als Vorbild für Stärke und Willenskraft, und die Autorin Simona Baldelli ließ ihr Leben und ihre Beharrlichkeit anschaulich in einem biographischen Roman aufleben.

Simona Baldelli: Die Rebellion der Alfonsina Strada. Eichborn-Verlag, Köln 2022, 334 Seiten, 13 Euro

Joan Negrescolor: So schnell wie der Wind. Die Geschichte von Alfonsina Strada. Gestalten-Verlag, Berlin 2020, 18 Seiten, 14,90 Euro

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