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Aus: Ausgabe vom 13.04.2024, Seite 15 / Geschichte
Antifaschismus

»Dimitroff contra Göring«

Brandstifter angeklagt. Vor 90 Jahren erschien das zweite »Braunbuch«
Von Werner Abel
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Karikatur aus der sowjetischen Zeitung Iswestija

Am 28. April 1935 kaufte der deutsche kommunistische Emigrant Anton Haas, der in der Sowjetunion den Parteinamen »Hermann Pescher« benutzte, in der Internationalen Buchhandlung in Moskau ein Buch, auf das er offensichtlich schon gewartet hatte und das er, davon zeugen die vielen Unterstreichungen, Anmerkungen und Notizen, intensiv studierte. Bei diesem Buch handelte es sich um das im April 1934 in Paris erschienene »Braunbuch II. Dimitroff contra Göring. Enthüllungen über die wahren Brandstifter«.

Der Initiator des Buches war Willi Münzenberg. Der wohl erfolgreichste Propagandist der KPD, den die Nazis ganz oben auf ihren Listen stehen hatten, war in letzter Minute aus Deutschland geflüchtet und musste sein Verlagsimperium zurücklassen. In Paris hatte er im März 1933 das Verlagshaus Éditions du Carrefour gekauft, das er zu einem der erfolgreichsten deutschen Exilverlage umbaute. Dort war schon im August 1933 das »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror« erschienen, eine Kollektivarbeit, an der viele kommunistische und nichtkommunistische Intellektuelle aus Deutschland mitarbeiteten, die in kürzester Zeit Berge von Material durcharbeiten mussten. Der Erfolg war überwältigend. Das »Braunbuch I« wurde zum wohl wirkungsmächtigsten Buch des deutschen literarischen Exils. Übersetzt in 17 Sprachen war es vor allem darauf gerichtet, der Welt den Brand des Deutschen Reichstags als eine Inszenierung der Nazis zur Legitimation ihres Terrors zu enttarnen. Der Reichstag brannte in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933; noch am gleichen Tag erließen die Nazis die »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die juristische Handhabe bot, die auf längst vorbereiteten Listen erfassten Gegner des Hitlerregimes zu inhaftieren oder zu ermorden.

Blamable Freisprüche

Die Nazis hatten behauptet, die Kommunisten hätten für den 28. Februar einen bewaffneten Aufstand geplant, für den der Brand des Reichstags das Fanal sein sollte. Diese Behauptung war durch das »Braunbuch I« ad absurdum geführt worden, um aber die Argumentation im In- und Ausland aufrechtzuerhalten, veröffentlichte der wegen seiner antibolschewistischen Kampfschrift »Aufstand der Unterwelt« berühmt-berüchtigte Adolf Ehrt im Auftrag des »Gesamtverbandes deutscher antikommunistischer Vereinigungen« zur gleichen Zeit sein Buch »Bewaffneter Aufstand! Enthüllungen über den kommunistischen Umsturzversuch am Vorabend der nationalen Revolution«. Diese Schrift, die teilweise mit angeblichen Funden in konspirativen KPD-Objekten aufwartete, so zum Beispiel in »Geheimräumen« des Berliner Karl-Liebknecht-Hauses, dem Sitz des Zentralkomitees der KPD, erschien in einer ungleich höheren Auflage als das »Braunbuch I« und in verschiedenen europäischen Sprachen. Große und anhaltende Wirkung erzielte es allerdings nicht, dafür aber konnten sich so manche Gegner des Faschismus klammheimlich über Anleitungen zur illegalen Arbeit und zur Sabotage freuen.

Während der Reichstag noch brannte, wurde im Gebäude der 21jährige Niederländer Marinus van der Lubbe festgenommen, am Tag danach Ernst Torgler, Vorsitzender der KPD-Fraktion im Reichstag, zudem Georgi Dimitroff, bis Januar 1933 Leiter des Westeuropäischen Sekretariats der Komintern, sowie die beiden bulgarischen Kommunisten Blagoj Popff und Wassil Taneff. Am 21. September 1933 begann vor dem 4. Strafsenat des Reichsgerichtes in Leipzig der Prozess gegen die fünf Angeklagten. Bei diesem Prozess spielte nicht nur das »Braunbuch I« eine Rolle, Willi Münzenberg und seine Genossen hatten es auch geschafft, in London einen Gegenprozess mit einer »Internationalen juristischen Untersuchungskommission über den Reichstagsbrand« zu organisieren. Dieser Kommission gehörten bekannte Staatsmänner und Juristen wie Sir Stafford Cripps oder der britische Kronanwalt D. N. Pritt an.

Obwohl in Leipzig als Zeugen der Anklage prominente Nazifunktionäre wie Hermann Göring und Joseph Goebbels teilnahmen, ging am 23. Dezember der von den Nazis medial aufgeblasene Prozess mit einer schweren Niederlage für sie zu Ende, denn mit Ausnahme van der Lubbes mussten alle Angeklagten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Georgi Dimitroff, dem »Sieger von Leipzig«, war es gelungen, nicht nur seine Unschuld und die seiner Genossen zu beweisen, sondern auch die Anklage zu entkräften, die kommunistische Bewegung habe den Reichstag angezündet. Mehr noch: Er klagte die Nazis an, den Brand selbst verursacht zu haben, ein Vorwurf, der im Grunde nicht widerlegt werden konnte und für dessen Zurückweisung die Nazigrößen nur noch ideologische, aber keine juristischen Argumente mehr zu benutzen gezwungen waren.

Kommunisten entlastet

In dem drei Monate später, im April 1934 erschienenen »Braunbuch II« wurde der Reichstagsbrandprozess kritisch untersucht und das Engagement all derer gewürdigt, die die Angeklagten solidarisch unterstützt hatten. Das bezog sich vor allem auf die internationale juristische Kommission, die, obwohl sie nicht aus Kommunisten bestand, die kommunistische Bewegung vom Vorwurf der terroristischen Brandstiftung entlasten konnte. Obwohl das »Braunbuch II« nicht mehr die internationale Wirkung hatte wie das »Braunbuch I«, konnte die Weltöffentlichkeit durch den dokumentarischen Anhang »Siebenhundertsiebenundvierzig nachgewiesene Morde in Hitlerdeutschland« auf das »Rechtsverständnis« der Nazis aufmerksam gemacht werden. Die Analyse des Prozesses, die veröffentlichten Dokumente und die Aufzählung der Opfer waren hauptsächlich das Werk von Willi Münzenbergs langjährigem Mitarbeiter Otto Katz (André Simone).

Leider hatte Katz, der einer Fehlinformation aufgesessen war, hier eine falsche Behauptung des »Braunbuches I« noch verstärkt, in dem van der Lubbe als »Homosexueller« und als »Lustknabe« bezeichnet wurde, der auf einer Liste des homosexuellen Stabschefs der SA Ernst Röhm gestanden haben soll. Das wurde als Beweis gewertet, dass van der Lubbe ein Werkzeug der Nazis war. Über die Rolle van der Lubbes wird bis in die Gegenwart gestritten, aber schon aus technischen Gründen konnte er nicht der Alleintäter sein. Ein halbblinder Mensch wie er konnte mit seinen bescheidenen Mitteln unmöglich den verheerenden Brand in dem Riesengebäude des Reichstags gelegt haben. Auch das »Braunbuch II« bringt Hinweise, die auf die Nazis als die eigentlichen Brandstifter hinweisen. Van der Lubbe, der für einige Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei der Niederlande gewesen war, kam ihnen gerade recht. Als möglicher Mitwisser musste er schnell verschwinden. Schon am 10. Januar 1934 wurde Marinus van der Lubbe in Leipzig hingerichtet.

Im Oktober 1936 übergab Anton Haas vor seiner Abreise nach Spanien das von ihm durchgearbeitete »Braunbuch« im Hotel Lux der Schriftstellerin Emma Tromm zur Aufbewahrung. Sie kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück, in ihrem Gepäck hatte sie das »Braunbuch II«. Anton Haas, in Spanien schwer verwundet, nahm am französischen Widerstand teil, überlebte das KZ Dachau und übersiedelte 1963 aus Augsburg nach Karl-Marx-Stadt, wohin er 1966 von Emma Tromm das gerettete Buch zugeschickt bekam.

»Ich bin sehr zufrieden mit der Antwort«

Göring: »Ich selbst bin nicht Kriminalbeamter, sondern verantwortlicher Minister und für mich war es deshalb nicht so wichtig, den einzelnen kleinen Strolch festzustellen, sondern die Partei, die verbrecherische Weltanschauung, die dafür verantwortlich war.«

Dimitroff: »Diese bolschewistische Weltanschauung regiert die Sowjetunion, das größte und beste Land der Welt, mit dem Deutschland in wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen steht und durch dessen Bestellungen Hunderttausende deutsche Arbeiter Arbeit bekommen. Ist das bekannt?«

Göring (im Zorn): »Ich will Ihnen sagen, was im deutschen Volk bekannt ist. Bekannt ist dem deutschen Volk, dass Sie sich hier unverschämt benehmen, dass Sie hierhergelaufen sind, um den Reichstag anzustecken. Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der direkt an den Galgen gehört.«

Senatspräsident Bünger: »Dimitroff, ich habe Ihnen bereits gesagt, dass Sie hier keine kommunistische Propaganda zu treiben haben. Sie dürfen sich auch nicht wundern, wenn der Zeuge derart aufbraust. Ich untersage Ihnen diese Propaganda auf das strengste. Sie haben rein sachliche Fragen zu stellen.«

Dimitroff: »Ich bin sehr zufrieden mit der Antwort des Herrn Ministerpräsidenten.«

Daraufhin wird Dimitroff das Wort entzogen. Er kann aber noch seine berühmt gewordene Frage stellen: »Sie haben wohl Angst vor meinen Fragen?«

Daraufhin verliert Göring endgültig die Fassung und er brüllt mit sich überschlagender Stimme: »Hinaus mit Ihnen, Sie Gauner!«

Auszug aus dem »Braunbuch II«

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  • Leserbrief von Richard Jawurek aus Markkleeberg (15. April 2024 um 12:24 Uhr)
    Erinnert sei an die beharrliche Praxis bzw. Tradition der DDR-Schulbildung intensivste Aufklärung betreffs Faschismus in Deutschland zu leisten. Es gab, vor allem in jungen Jahren, zum Besuch im KZ Buchenwald dazu Veranstaltungen mit überlebenden betroffenen Zeitzeugen, die große Wirkung hatten. Kinofilme, Hörspiele etc. waren Bestandteil unserer Erziehung und spiegeln sich bis heute noch oft in ostdeutschen Ansichten. Ein besonders eindruckvolles Erlebnis war 1961 ein Besuch mit der Schulklasse im orginalen
    Gerichtssaal des Georgi-Dimitroff Museums in Leipzig (einst Reichsgericht, nun BVG) bei dem wir die Tonaufnahme des Wortwechsels zwischen Göring und Dimitroff hören konnten. Meine Nachfrage 2002 ergab: »das ist in irgendeinem Archiv und der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich.« Eine Recherche dazu könnte angesichts des heute dringlichen, teils diffusen »Kampfes gegen Rechts« inkl. inflationärem gegenseitigem Naziverdachts nützlich sein.
    • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (15. April 2024 um 17:28 Uhr)
      Hallo Herr Jawurek, hier findet sich ein Audio-File: https://archive.org/details/19331104ReichstagsbrandprozessInLeipzigGeorgiDimitroffUndHermannGoering3m18s

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