junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Donnerstag, 2. Mai 2024, Nr. 102
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 04.04.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Kommunalwahlen in Polen

Mythos Auswahl

In jeder neunten polnischen Gemeinde hat der Bürgermeister keinen Gegenkandidaten
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
Polen.jpg
Alles beim alten: In vielen polnischen Gemeinden scheint die Zeit stillzustehen (25.9.2007, Łochów)

Nekla, ungefähr 40 Kilometer östlich von Poznań, ist eine in vielen Hinsichten typische polnische Gemeinde. Die Wahlergebnisse liegen zumindest vor dem Komma im gesamtpolnischen Schnitt, die Stadt mit ihren 7.400 Einwohnern ist weder besonders arm noch besonders reich, die Leute im Speckgürtel der Regiopole haben in aller Regel ihr Auskommen.

Die Gemeinde ist eine der 421 von 3.840 polnischen Gemeinden, in denen der amtierende Bürgermeister am Sonntag keinen Gegenkandidaten haben wird. Es betrifft also fast jede neunte. Karol Balicki tritt für seine vierte Amtszeit an. Seit 2010 regiert er die Gemeinde, sein Ergebnis bei der letzten Wahl 2018 lag bei knapp 80 Prozent. Diesmal hat sich niemand die Mühe gemacht, gegen ihn anzutreten. Der Mann scheint nicht zu schlagen sein.

Balicki kommt aus einer einflussreichen Familie des Ortes. Schon sein Vater war zu sozialistischen Zeiten Bürgermeister von Nekla. Dass der irgendwann wegen Vorwürfen der Zuarbeit für die damalige Staatssicherheit zurücktreten musste, hat sich auf die Popularität seines Sohnes nicht ausgewirkt. Dessen Amtsführung lässt sich am einfachsten mit dem Prinzip »Geräuschlosigkeit« charakterisieren. Politik ist nicht Balickis Sache. Was aus Sicht des Bürgers auf der lokalen Ebene laufen muss, läuft: Müllabfuhr, Straßenreinigung und dergleichen. Dass der Bahnhofsvorplatz eine Ansammlung von Schlaglöchern ist, lässt sich damit erklären, dass die Immobilienabteilung der staatlichen Eisenbahn das Gelände jahrelang nicht an die Gemeinde abgeben wollte.

Die Verantwortung für ein lokal kontroverses diskutiertes Thema hat Balicki vor einigen Jahren elegant durch ein Referendum von sich weggeschoben. Die Bevölkerung wurde gefragt, ob die Gemeinde das ehemalige Gutshaus einer gräflichen Familie, das 1939 von den Deutschen enteignet und 1945 der Gemeinde übergeben worden war und in dem unter anderem der Kindergarten, die Stadtbibliothek, die lokale Ambulanz und die Sitzungsräume des Gemeinderats untergebracht waren, den Alteigentümern abkaufen solle. Eine Zweidrittelmehrheit der Bewohner entschied 2016 für »Kaufen«. Dass seitdem alle freien Mittel aus dem kommunalen Haushalt an die Alteigentümer und in die Renovierung des Objekts fließen, hat formal nicht Balicki zu verantworten, sondern die vox populi, damals angestachelt vom örtlichen Kulturverein, der in seiner untertänigst ergebenen Haltung gegenüber den Grafenerben die mäßig attraktive Schrottimmobilie unbedingt der »Allgemeinheit« erhalten wollte.

Es dürfte Balickis letzte Amtszeit als Bürgermeister von Nekla werden. Zu PiS-Zeiten ist eingeführt worden, dass kommunale Mandatsträger maximal zwei Legislaturperioden amtieren dürfen. Das sollte dem Entstehen »ewiger« Bürgermeister, von denen einige seit 1991 ununterbrochen regieren, vorbeugen. Aber als das Gesetz erlassen wurde, war Balicki gerade zum dritten Mal gewählt und konnte argumentieren, dass die Begrenzung der Amtszeiten nur für die Zukunft gelten könne.

Soziologen nennen einen ganz praktischen Grund für die hohe politische Stabilität in den Kommunen der polnischen Provinz: Sie sind auch lokal bedeutende Arbeitgeber, und wer einmal einen unkündbaren Job von der »Obrigkeit« bekommen oder einen für die Schwägerin »organisiert« hat, wird ihn nicht riskieren wollen. Böse Zungen nennen es Klientelismus.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Regio:

Mehr aus: Schwerpunkt