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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Japan

Inseln zu Festungen

Japan wird Stück um Stück militarisiert und aufgerüstet. Ein Besuch in Okinawa
Von Igor Kusar
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Protest gegen Errichtung einer neuen US-Militärbasis (14.12.2023)

Der Kampf um Henoko, wo ein neuer US-Militärstützpunkt mit zwei Start- und Landebahnen und einem Hafen entstehen soll, geht in die nächste Runde. Der Flughafen in der japanischen Präfektur Okinawa ist schon fast fertiggebaut, jetzt geht es für die Verantwortlichen noch darum, den Militärhafen in der benachbarten Oura-Bucht durch Landgewinnung anzulegen. Dagegen hat sich seit Jahren heftiger Widerstand gebildet. Als vor einiger Zeit bekannt wurde, dass der Meeresboden zu weich ist, wurden die Baupläne geändert. Okinawas Gouverneur Tamaki Denny weigerte sich jedoch, sie zu genehmigen, auch nachdem ihn ein Gericht dazu aufgefordert hatte. Im Dezember hat nun die Zentralregierung in Tokio statt Tamaki die Fortsetzung der Aufschüttarbeiten gebilligt. Ein weiteres Mal wurde dadurch das gesetzlich verankerte Recht der japanischen Regionen auf Selbstbestimmung mit Füßen getreten.

Auch deshalb geht ein Aufschrei um auf den Ryukyu-Inseln in Südjapan, die größtenteils zur Präfektur Okinawa gehören: »No more Okinawa-sen« (Nie mehr Krieg um Okinawa), hallt es an vielen Ecken. Und der Aufschrei wird täglich lauter, je mehr das Militär die Inseln in eine riesige Festung ausbaut – treu der neuen Militärdoktrin, die Japans Premierminister Kishida Fumio im Dezember 2022 vorgestellt hatte, mit China als »größter strategischer Herausforderung«.

Der Aufschrei ist Teil der wohl aktivsten Friedensbewegung, die Japan im Moment besitzt, nachdem auf den Hauptinseln dem Widerstand gegen die Wiederaufrüstung etwas die Luft ausgegangen ist. »Wir müssen uns wehren«, erzählt mir eine Frau auf einer Busfahrt. »Die Regierungen Japans und der USA würden uns am liebsten umsiedeln, um freie Hand für ihre Kriegsspiele zu haben. Doch so weit lassen wir es nicht kommen«, meint sie entschlossen. Okinawa ist und bleibt zusammen mit Hiroshima und Nagasaki eine moralische Instanz in Sachen Krieg und Frieden. Doch im Gegensatz zu den Atombombenstädten ist das Interesse an Okinawa auf den Hauptinseln klein.

Das Leid der einheimischen Bevölkerung hat nicht erst im Wechseljahr 2022 begonnen. Okinawa befindet sich seit rund 80 Jahren im »Kriegszustand«. Im April bis Juni 1945 tobte hier die einzige Landschlacht auf japanischem Territorium zwischen den USA und Japan. Je nach Schätzungen fand bis zu einem Drittel der verbliebenen einheimischen Bevölkerung den Tod. Nach der japanischen Niederlage im August 1945 blieb Okinawa bis 1972 unter direkter US-Besatzung. Die USA bauten ihre Stützpunkte sukzessive aus und reduzierten sie auch nach der Rückgabe der Inseln an Japan nur unwesentlich. Rund 70 Prozent der Fläche, die die US-Basen in Japan heute einnehmen, liegen auf Okinawa.

Am besten hat die Stimmung hier wohl der mehrfach ausgezeichnete einheimische Autor Medoruma Shun in seinen Erzählungen eingefangen. Seine Figuren werden vom Trauma des Zweiten Weltkriegs geplagt, das auch das Leben der Nachkriegsgenerationen vereinnahmt. In Träumen, Erinnerungen und als Geister kehren die Gefallenen ins Heute zurück und werfen einen Schatten auf das gegenwärtige Okinawa.

Licht ins Dunkel bringen

Der Kampf gegen die Aufrüstungspläne der japanischen Zentralregierung findet in Okinawa an verschiedenen Orten statt. Sehr heftig wird er zur Zeit in Henoko und auf den kleineren Inseln geführt, wo sich seit einigen Jahren die japanischen Selbstverteidigungskräfte breitmachen.

Mitte Februar bestieg ich in Okinawas Hauptstadt Naha einen Charterbus, um mir ein genaueres Bild von der Lage in dem weiter nördlich gelegenen Henoko und der Oura-Bucht zu machen. Eingeladen hatte eine einheimische Bürgervereinigung, die sich »Stimme von Okinawa und Ryukyu« nennt. Das Ziel der Organisation ist es, Licht ins Dunkel der Machenschaften so vieler militärischer Projekte der japanischen und US-Regierung zu bringen. Jene werden von den Medien in Tokio meist links liegen gelassen. Vor allem die US-Basen sind für sie praktisch ein Tabuthema. Es ist eine bunte Schar von rund 20 Interessierten, Aktivisten, Journalisten und Hochschuldozenten, die sich am Morgen an der Busstation trifft, angeführt von zwei Achtzigjährigen – Okinawa bricht bei der Lebenserwartung stets alle Rekorde.

Es ist eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft der Insel, denn hier und da erinnern Monumente an die Schlacht um Okinawa, während Henoko auf die kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen hindeutet, wie sie vor allem Aktivisten befürchten, die immer wieder Parallelen zwischen dem Heute und der Vorkriegszeit ziehen. Die Straßenbilder, die sich jenseits des Busfensters auftun, erinnern wenig an das übrige Japan. Okinawa besitzt einen eigenen Architekturstil. Überall treffen wir auf Häuser mit bizarren Fassaden, großen Balkonen und Flachdächern. Nur die Namen der Kettenläden erinnern daran, dass Okinawa eine japanische Präfektur ist.

Während wir uns der Baustelle in Henoko nähern, werden wir von den beiden Leitern, die sich als kundige Sachverständige entpuppen, über Hintergründe und neueste Entwicklungen unterrichtet. Dabei räumen die beiden gleich mit einigen gängigen Mythen auf: 1996 kamen Japan und die USA überein, den »gefährlichsten Militärstützpunkt der Welt«, die sich weiter südlich in einem Wohnquartier befindende Futenma-Base zu verlegen. 1999 wurde Henoko als neuer Ort ausgewählt, die Kosten dafür sollte der japanische Staat übernehmen. Doch das ganze Projekt ist ein PR-Coup, um den Eindruck zu vermitteln, die beiden Regierungen kämen der einheimischen Bevölkerung entgegen. In Wirklichkeit haben die USA bereits in den 1960er Jahren einen Plan entwickelt, in Henoko eine Base zu bauen, der dann später wegen zu hoher Kosten aufgegeben wurde. In diesem Sinne ist Henoko kein Ersatz für Futenma, sondern hat seine eigene Geschichte.

Und These Nummer zwei, die im halben Widerspruch zur ersten steht: Die USA werden die Base in Futenma nie aufgeben, denn sie profitieren da von einer Start- und Landebahn von 2.800 Metern Länge. Deshalb werde das Henoko-Projekt nie fertiggestellt, um eine Verlegung zu verhindern. Hier sind die beiden Pisten 1.000 Meter kürzer. Ein ausgewachsener Skandal, der darauf wartet, publik zu werden.

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Die Militärbasis auf Miyako-jima beherbergt Kurzstreckenraketen, die potentiell gegen China gerichtet werden sollen (22.4.2022)

Etwas später treffen wir in der Oura-Bucht ein, die von bewaldeten Hügeln umgeben ist. Das für den Militärhafen bestimmte Areal ist markiert, einige Kräne ragen in die Höhe, und Schiffe stehen im Wasser, die Aufschüttarbeiten scheinen an dem Tag zu ruhen. Die japanische Regierung will über 70.000 Pfähle in den weichen Meeresboden rammen, um ihn zu festigen. Doch dieser ist zu tief, um ihn mit der heutigen Technik ganz durchstoßen zu können – ein weiteres Indiz dafür, dass der Hafenbau zum Scheitern verurteilt ist.

Gift und Raketen

Im nahen Fischereihafen steigen wir in ein Glasbodenboot um, um das Korallenriff in der Bucht zu besichtigen. Oura ist ein biologisches Paradies, 5.300 verschiedene Arten von Lebewesen wohnen hier, 260 davon sind vom Aussterben bedroht. Umweltschützer in ganz Japan steigen wegen der zu erwartenden Verschmutzung auf die Barrikaden. Doch obwohl alles gegen eine gut funktionierende Militärbasis spricht, lässt die japanische Regierung verlauten, es gebe keine Alternative. Zu schwach scheint die japanische Zivilgesellschaft derzeit zu sein, um dieser Farce genügend Widerstand entgegenzusetzen. Bedanken dafür können sich die großen japanischen Baufirmen, die prächtig verdienen.

Nicht nur auf Okinawas Hauptinsel, auch auf den kleineren Inseln schreitet die Militarisierung voran. Eine knappe Flugstunde von Naha entfernt Richtung Taiwan liegen die Miyako-Inseln mit der Hauptinsel Miyako-jima, bekannt für ihr türkisblaues, klares Meer. Dessen Geheimnis ist schnell erzählt: Miyako-jima besitzt keine Flüsse, die das Meer verschmutzen könnten. Dadurch sind die Bewohner einzig und allein aufs Grundwasser angewiesen. Doch die Zukunft dieses Unterwassers ist nicht mehr sicher, seit vor einigen Jahren die japanischen Selbstverteidigungskräfte auf der Insel einen neuen Stützpunkt – verteilt auf zwei Orte – fertiggestellt haben.

»Ich habe Angst«, sagt Shimizu Hayako. »Die Vorbereitungen auf einen Krieg laufen auf Hochtouren. Die Base hier besitzt Kurzstreckenraketen. Im Falle eines militärischen Konflikts wäre das der erste Ort, der angegriffen würde. Falls dies das Grundwasser verschmutzt, würde die Insel für die rund 50.000 Ansässigen unbewohnbar werden.« Doch schon jetzt bestehe die Gefahr, dass das Wasser vom Militär verseucht werde. Shimizu gehört zu einer kleinen, aber sehr aktiven Gruppe von Bewohnern, die sich gegen die Militarisierung stellt. Ich treffe die 75jährige in der Hotellobby – sie erscheint mit Hut. Obwohl es erst Februar ist, sind es draußen 25 Grad, die Sonne brennt auf die Köpfe herab.

»Wir stellen uns in der Stadt und vor dem Tor der Base auf, um unseren Unmut kundzutun«, fährt Shimizu fort. »Während des zweijährigen Baus waren wir sogar jeden Tag da.« Und als vor gut zwei Jahren die Raketen mit dem Schiff ankamen, hätten sie sich vor die Lastwagen gestellt, um den Transport aufzuhalten. Schließlich habe sie die Polizei weggetragen. Die Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von 200 Kilometern sollen die Straße von Miyako beschützen, die von der chinesischen Marine regelmäßig als Durchgangspassage in den Pazifik benutzt wird. Obwohl dies völlig legal ist, schlagen die bürgerlichen japanischen Medien jeweils Alarm.

Vorbereitung auf Krieg

Und was denken Miyako-jimas Normalbürger über den Stützpunkt? »Sie unterstützen uns moralisch, ohne sich am Protest zu beteiligen«, meint Shimizu. Kakihana Hisashi widerspricht ein wenig. Er ist Chefredakteur der Lokalzeitung Miyako Mainichi Shimbun – Auflage 16.000 Exemplare. Eine Mischung aus Apathie und Resignation habe sich breitgemacht, die bis in die lokale Politik hineinreiche, meint er. »In den letzten Jahren ist es unpopulär geworden, sich gegen das Zentrum zu stellen. Und das ist gefährlich – da werden nach und nach vollendete Tatsachen geschaffen.« Das Verteidigungsministerium spiele mit verdeckten Karten und lasse die Bewohner jeweils lange Zeit im Ungewissen über seine Pläne.

Und die geographische Aufteilung des Stützpunkts, wobei Raketenwerfer und Raketen an verschiedenen Orten lagern, sieht für Kakihana so aus, als ob die Selbstverteidigungskräfte schnell einen Fuß in die Tür setzen wollten, um sich später auf der Insel ausbreiten zu können. Die Stimmung würde erst umschlagen, wenn sich das US-Militär auf einer der Miyako-Inseln niederlassen würde, ist er überzeugt. Dagegen hätten die Bewohner immer noch eine Allergie. Dass im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung – etwa zwischen den USA und China – die Insel in Kampfhandlungen hineingezogen würde, daran denken zur Zeit nur wenige.

Später nimmt mich Shimizu mit zur Militärbasis Chiyoda, wo die Kaserne steht. Vor dem Tor inmitten von Zuckerrohrplantagen haben die Aktivisten ihre Transparente aufgestellt. Auf einem ist zu lesen: »Wir sind gegen die EKF-Abteilung.« EKF steht für »elektronische Kriegführung« und umfasst etwa die elektronische Aufklärung. Die EKF-Abteilung wird in Kürze hierher verlegt werden, die Militarisierung der Insel schreitet weiter voran.

Dagegen wehrt sich auch Shimoji Akane, die 20 Autominuten von Chiyoda entfernt neben dem anderen Teil des Stützpunkts lebt, der unter anderem zwei Munitionslager beherbergt. Ein drittes ist noch im Bau. Shimoji ist seit drei Jahren Stadtparlamentarierin. Die Diskussion dreht sich schnell um die Langstreckenraketen, die Kishida an verschiedenen Orten in Japan – eventuell schon nächstes Jahr – aufstellen lassen will, um feindliche Basen ausschalten zu können, bevor von dort zum Erstschlag ausgeholt werden kann. Natürlich sei auch Miyako-jima eine Kandidatin, meint Shimoji, doch einiges spreche auch dagegen, etwa die schmalen Straßen.

Was ihr größere Sorgen bereitet, ist eine vor kurzem eingegangene Meldung: Die Regierung in Tokio plant, im Falle eines Krieges die Bevölkerung der Miyako-Inseln ins tausend Kilometer entfernte Kumamoto auf Kyushu zu evakuieren. »Nicht ausgeschlossen, dass wir danach nie mehr zurückkehren können«, meint Shimoji. Auch so lässt sich lokaler Widerstand brechen.

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