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Aus: Ausgabe vom 30.03.2024, Seite 7 / Ausland
Libanon

Giftiges Erbe

Israel gegen Libanon: Systematischer Einsatz von weißem Phosphor sorgt neben Leid für Menschen für dauerhafte Zerstörung der Natur
Von Karin Leukefeld
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Bereits im November wurde der Einsatz von weißem Phosphor an der libanesischen Grenze beobachtet

Seit dem Beginn des Gazakriegs Anfang Oktober 2023 eskalieren die Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der libanesischen Hisbollah und deren Verbündeten. Frontlinie ist die »Blaue Linie«, die Waffenstillstandslinie, die von den Vereinten Nationen nach dem Abzug der israelischen Besatzungstruppen aus dem Libanon im Jahr 2000 und erneut nach dem Krieg 2006 markiert wurde. Benannt ist sie nach den blauen Tonnen, die von der UNO als Grenzmarken entlang der rund 100 Kilometer langen Linie aufgestellt wurden. Heute befinden sich dort in Teilen eine von Israel errichtete Mauer, ein Zaun und eine »Sicherheitszone«, entlang derer israelische Fahrzeuge patrouillieren.

Die »Blaue Linie« verläuft entlang der »Grünen Linie«, einer Waffenstillstandslinie, die nach dem Krieg 1948/49 gezogen wurde. Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten kämpften damals gegen die Gründung des Staates Israel in Palästina – und verloren. »Blaue« und »Grüne« Linie wiederum folgen den Grenzziehungen des Sykes-Picot-Abkommens, das ab dem 16. Mai 1916 die Interessensphären der beiden europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich festlegte. Zusammen mit der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917, in der Großbritannien der zionistischen Nationalbewegung Unterstützung für die Gründung einer »jüdischen Heimstatt in Palästina« zusagte, war die Aufteilung der Region der Beginn von mehr als 100 Jahren Krieg. Frankreich und Großbritannien hatten sich Land angeeignet, das ihnen nicht gehörte.

Und ein Ende ist nicht absehbar, wie die fortwährenden Krisen und Kriege bis heute zeigen. Israel, das aus der »jüdischen Heimstatt in Palästina« hervorging und Land in Syrien, Palästina und Libanon besetzt hält, führt weiter Krieg gegen seine arabischen Nachbarn. Dabei setzt die israelische Armee alle Waffen ein, die sie aus den Waffenschmieden der USA und Europas bekommen kann. Nach Angaben des schwedischen Forschungsinstituts SIPRI stammen 69 Prozent der im Jahr 2023 nach Israel gelieferten Waffen aus den USA und 30 Prozent aus Deutschland. Italien liefert demnach die restlichen 0,9 Prozent. Ende 2023 hatten die USA laut SIPRI Tausende von Lenkbomben und Raketen, mindestens 100 bunkerbrechende 2.000-Pfund-Bomben und giftige Munition wie Phosphor und Uran an Israel geliefert. Hohe Beamte im US-Außenministerium und im Weißen Haus traten aus Protest gegen die Lieferungen zurück.

Im Südlibanon setzt Israel entlang der »Blauen Linie« systematisch weiße Phosphorbomben ein. Lokale und internationale Untersuchungen haben ergeben, dass weiße Phosphorbomben mindestens in 36 Orten und Dörfern und dem dazugehörigen Agrarland im Südlibanon eingeschlagen sind. Dabei trifft es manche Orte immer wieder. In Hula wurden bislang sieben Angriffe gezählt, in Kfar Kila elf, in Meiss Al-Dschabal zehn und in Labbouneh acht. Mehr als 100 Personen wurden mit Atembeschwerden oder Phosphorverbrennungen in Krankenhäuser eingeliefert, berichtete die Gruppe »The Legal Agenda« in einem diese Woche von Al-Dschasira veröffentlichten Bericht über »Giftiges«. Die Zahlen stammen von Ende 2023 und dürften inzwischen gestiegen sein.

Weißer Phosphor darf wegen schwerer Verbrennungen nach dem humanitären Völkerrecht, das die Regeln des Kriegsvölkerrechts umfasst, niemals in bewohnten Gebieten eingesetzt werden. Flammen durch weißen Phosphor sind schwer zu löschen, Verbrennungen bleiben nicht auf der Oberfläche, sondern dringen weiter in das brennende Objekt ein. Agrarland und Bäume werden verseucht und können auf Jahre hin nicht wieder bewirtschaftet werden. Bei Menschen dringen die Verbrennungen durch die Haut ins Gewebe, in Organe und Knochen ein und können kaum gestoppt werden. Falls doch, führen sie zu schweren inneren Erkrankungen, die den Menschen von innen her qualvoll absterben lassen.

Mohammad Hussein von der südlibanesischen Agrarunion sagte dem Sender, er habe weißen Phosphor erstmals bei der israelischen Invasion 1982 beobachtet. Das Agrarland auf der libanesischen Seite entlang der »Blauen Linie« sei karg, jede Wiederaufforstung und jeder Anbau werde durch israelische Angriffe vernichtet. Hussein sprach von »Umweltterrorismus«, den Israel gegen die Bevölkerung im Südlibanon verübe, es sei »psychologische Kriegführung«. Tannous Mouawad, ein pensionierter Brigadegeneral der libanesischen Armee, sagte: »Israel will (im Südlibanon, jW) eine Pufferzone schaffen, in der Menschen nicht mehr leben können, in der die Natur stirbt. Das Land soll unbewohnbar gemacht werden, es soll unmöglich sein, das Land noch zu bewirtschaften.«

Auf Anfrage von Al-Dschasira hieß es von seiten der israelischen Armee, man halte sich an das humanitäre Völkerrecht. Die genannten Vorwürfe würden untersucht.

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