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Aus: Ausgabe vom 28.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Westliches Kriegsbündnis

Wecker im Bauch

Ausweitung der Kampfzone und der Informationskrieg. Vorabdruck aus »Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis«
Von Sevim Dagdelen
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In einer Manufaktur bei Stockholm werden zum NATO-Beitritt Schwedens Flaggen des Kriegsbündnisses genäht (7.3.2024)

Zum 75. Jahrestag der Gründung der »Nordatlantischen Vertragsorganisation« (North Atlantic ­Treaty Organization, NATO) legt Sevim Dagdelen, außenpolitische Sprecherin der Gruppe Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Deutschen Bundestag das Buch »Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis« vor. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Westend-Verlages dokumentieren wir einen Auszug aus Kapitel 10 »Ausweitung der Kampfzone – der Informationskrieg der NATO«. (jW)

Rom ist ohne Zweifel eines der bedeutendsten und schönsten Kulturzentren Europas. Wer einmal in den Genuss gekommen ist, die jahrtausendealten prächtigen Baudenkmäler des einstigen Mittelpunkts des Imperium Romanum zu bestaunen oder bei einem Streifzug durch das Straßengewirr die quirlige Lebendigkeit der Heimat von »Dolce Vita« aufzusaugen, wird dies bestätigen können. Doch die Ewige Stadt beherbergt nicht nur spektakuläre Renaissancepaläste und noch spektakulärere Eisdielen. Nur wenige Kilometer südlich von Pantheon, Kolosseum und Forum Romanum liegt inmitten einer der größten Kasernenanlagen Italiens das »NATO Defense College«. Das ist den wenigsten ein Begriff, die Militärakademie spielt aber eine wichtige Rolle im Informationskrieg der NATO.

Bereits seit der Jahrtausendwende beanspruchen die USA in ihrer Militärdoktrin die Überlegenheit in allen militärischen Teilbereichen. Neben den aktuell von der NATO definierten fünf Kriegsschauplätzen Wasser, Land, Luft, Weltraum und Internet soll die sogenannte Full spectrum dominance (Überlegenheit auf allen Ebenen) auch für den Informationsbereich gelten. Letzterer ist für die NATO derart bedeutsam, dass aktuell diskutiert wird, die »Human Domain« oder »Menschliche Sphäre« als sechsten Kriegsschauplatz aufzunehmen.

In einem lesenswerten Buch legt Jonas Tögel dar, wie die NATO seit dem Jahr 2020 systematisch eine neue moderne Form der Kriegführung entwickelt: »Kognitive Kriegsführung« (cognitive warfare) ist der Titel. Im Kern geht es dabei um »Soft Power« im Gegensatz zu klassischer militärischer Gewalt (»Hard Power«), ins Visier wird dabei der menschliche Verstand genommen. Diese Methode der Kriegführung zielt darauf ab, mit Propaganda und Manipulation in die Gedanken und Gefühle der Menschen vorzudringen und diese für die eigenen Zwecke einzunehmen.

Kriegspropaganda

Ausgangspunkt für die Entwicklung dieses Programms ist eine einfache, aber weitreichende Einsicht: Auf dem Schlachtfeld zu siegen, bedeutet noch lange nicht, politisch zu gewinnen. So haben die USA und ihre NATO-Verbündeten im sogenannten Krieg gegen den Terror zwar schnelle militärische Erfolge erzielt. Letztlich sind sie jedoch daran gescheitert, auch die Bevölkerungen für sich und ihre politischen Ziele einzunehmen. Die erfolglose Besetzung des Irak oder der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 haben das eindrücklich gezeigt.

Um ein solches Versagen in Zukunft zu verhindern und den eigenen globalen Machtanspruch abzusichern, will die NATO nun ihre Techniken der Kriegspropaganda und Manipulation optimieren. Das schlägt sich zum Beispiel im Lehrplan des NATO Defense College nieder. An der Militärakademie, die 1951 auf Vorschlag des damaligen Oberkommandierenden der NATO-Streitkräfte in Europa und späteren US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower gegründet wurde, bildet das Bündnis sein Führungspersonal aus. Bei den dortigen Kursen und Seminaren werden hohe Militärs sowie wichtige Beamte und Diplomaten der NATO-Staaten und aus Partnerländern zu Themen wie dem »emotionalen Quotienten« von Konflikten oder »strategischer Kommunikation« geschult.

Für Letzteres betreibt die NATO seit 2014 ein eigenes »Kompetenzzentrum« mit Sitz in Riga. Bei »strategischer Kommunikation« – neudeutsch für Propaganda – handelt es sich um ein wichtiges Instrument der kognitiven Kriegführung. Die NATO selbst hält »strategische Kommunikation« für einen »wesentlichen Bestandteil« ihrer Bemühungen, »die politischen und militärischen Ziele des Bündnisses zu erreichen«. In der Ausweitung des Informationskrieges sieht die NATO selbstverständlich ein rein defensives Unterfangen, etwa als Reaktion auf »böswillige Aktivitäten im Cyber- und Weltraum« und »Desinformationskampagnen« »autoritärer Akteure« – gemeint sind natürlich allen voran China und Russland. Es gilt das Motto: Propaganda und Desinformation betreiben immer nur die anderen.

Der Stellvertreterkrieg der NATO gegen Russland in der Ukraine führt uns unmittelbar vor Augen, was es heißt, wenn die Köpfe und Herzen der Menschen zum Kriegsschauplatz werden. Denn der Informationskrieg zielt immer auch auf die eigene Bevölkerung ab. Unter dem Deckmantel der »strategischen Kommunikation« zur Bekämpfung »russischer Desinformation« baut die deutsche Bundesregierung regelrechte Propagandaabteilungen in ihren Ministerien auf und aus. Allein in den ersten Monaten nach Beginn des Ukraine-Krieges wurden hierfür zusätzlich mehr als elf Millionen Euro investiert. Um »russische Narrative und Desinformation« zu entlarven, verbreitet die Bundesregierung systematisch sogenannte Faktenchecks vermeintlich neutraler, tatsächlich jedoch staatlich oder über EU-Gelder finanzierter Einrichtungen wie der Deutschen Welle oder dem Portal EUvsDisinfo des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Diese sind ein wirkmächtiges Instrument im Kampf um Deutungshoheit, suggerieren sie doch den Anspruch auf objektive Wahrheit.

Konkret geht es der Bundesregierung darum, die eigene Politik und Deutschland insgesamt immer stärker am NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland zu beteiligen und die deutschen Militärausgaben zu steigern und zu legitimieren. Kriegsmüdigkeit steht der Kriegstüchtigkeit im Weg und soll möglichst erst gar nicht aufkommen. Ziel der omnipräsenten Kriegspropaganda ist es, das Partikularinteresse des NATO-affinen politisch-medialen Establishments an Krieg und an der Militarisierung der Bevölkerung als – um mit dem italienischen marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci zu sprechen – »gesellschaftliches Allgemeininteresse« aufzudrücken.

Militärexperten im TV

Eine wichtige Rolle kommt hierbei sogenannten Militärexperten zu. Als vermeintlich neutrale Autoritäten hat deren Wort besonderes Gewicht in der öffentlichen Diskussion. Hervorgetan in der Kunst der Kriegspropaganda hat sich insbesondere Florence Gaub, Forschungsdirektorin am eingangs erwähnten NATO Defense College. Eine gewisse Bekanntheit erreichte die Reserveoffizierin der französischen Armee wenige Wochen nach Beginn des Ukraine-Krieges, als sie in der ZDF-Fernsehsendung »Lanz« davon spricht, dass »die Russen« trotz ihres europäischen Aussehens keine Europäer seien und ein anderes – sprich: unzivilisiertes – Verhältnis zu Gewalt und zum Tod hätten. Neben solchen rassistisch-pauschalisierenden Entgleisungen zur Dämonisierung des Feindes scheint die Aufgabe der NATO-Politologin darin zu bestehen, die deutsche Öffentlichkeit auf eine Verlängerung des Krieges in der Ukrai­ne einzuschwören.

Das war etwa im Zwiegespräch von Gaub mit der Politikerin Sahra Wagenknecht in der ARD-Sendung »Maischberger« zu beobachten – einem wahren Lehrstück der Kriegspropaganda. In der Sendung argumentierte Gaub vehement gegen diplomatische Bemühungen für einen Waffenstillstand in der Ukraine. Für sie steht fest: Statt zu deeskalieren, müsse dort eskaliert werden. Denn man kenne es ja vom Beziehungsstreit mit dem Partner: »Manchmal muss es erst richtig nach oben gehen, bis die andere Seite bereit ist einzuschwenken.« Der Krieg in der Ukraine könne auch noch gar nicht beendet werden, das zeige die durchschnittliche statistische Dauer von Kriegen. »Sie müssen sich das so vorstellen«, so Gaub: »Der Konflikt hat quasi einen Wecker im Bauch«. Ein Ende komme erst infrage, wenn dieser »irgendwann klingelt«. (…)

Der Informationskrieg und die damit verbundene Ausweitung der Kampfzone auf die Köpfe und Herzen der Menschen sind in vollem Gang. Um ihre globale Machtambition umzusetzen, macht die NATO den menschlichen Verstand zunehmend zur Zielscheibe von Propaganda und Manipulation. Was kann dagegen getan werden? Einen Weg hat der Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange aufgezeigt. Von ihm stammt der Satz: »Wenn Kriege durch Lügen begonnen werden können, kann Frieden durch Wahrheit begonnen werden.« ­Assange hat recht. Die Aufklärung über die Kriegspropaganda und Manipulation der NATO ist ein erster Schritt auf dem Weg zum Frieden.

Auszug aus: Sevim Dagdelen: Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis. Westend-Verlag 2024, 128 Seiten, 16 Euro

Arte-Doku: Zeit der Monster

»Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, so heißt ein Bild von Goya. Anlässlich des 75. Geburtstags der NATO zeigen nun die öffentlich-rechtlichen Medien zwei Produktionen von MDR und BR, die den Militärpakt ausgiebig würdigen. Die Arte-Dokumentation »NATO – Alte Freunde, neue Fronten« ist bereits jetzt in der Mediathek zu sehen.

Untermalt von getragener klassischer Musik ist eine von einer Drohne aufgenommene Totale des NATO-Hauptquartiers zu sehen. Der Versuch der Ästhetisierung von öden Büroräumen, Waffentransporten im Winter und Statements von ehemaligen oder aktuellen NATO-Angestellten durchzieht den gesamten Film. Und er beginnt mit einer Lüge. So darf der ehemalige US-Oberbefehlshaber in Europa, Benjamin Hodges, als Jean-Paul-Sarte-Verschnitt gekleidet, unwidersprochen jubeln: »75 Jahre europäische Geschichte ohne Krieg. Das ist der ultimative Ausdruck für ein erfolgreiches Bündnis.« An 78 Tage NATO-Bombardement Jugoslawiens 1999 wollte oder konnte man sich nicht erinnern. Offen bekennen sich die Filmemacher dazu, ausschließlich Protagonisten zu Wort kommen zu lassen, »die die NATO von innen kennen«. So muss man von einem veritablen Propagandafilm sprechen, der sich darauf beschränkt, eine mythische Geschichte von NATO-Angestellten selbst erzählen zu lassen. Dazu kommt noch ein kanadischer NATO-Historiker, der anpreist, dass ehemalige Offiziere der Naziwehrmacht so gut in die Militärstrukturen des Militärpakts integriert werden konnten. Während die Mythen elegisch vorgetragen werden, stolpern aber die Monster durch die NATO-Kulissen. So ist der ehemalige CIA-Direktor Michael Pompeo, der verantwortlich für die Mordpläne gegen Julian Assange zeichnete, an der Seite Donald Trumps zu sehen. Und John Bolton, 2003 US-Botschafter bei der UNO und einer der Hauptverantwortlichen für den verbrecherischen US-Angriffskrieg gegen den Irak, darf seine eigene Heldengeschichte aufsagen, wie es ihm gelang, Donald Trump von einem NATO-Austritt abzubringen. Die Selbstinszenierung als Wertegemeinschaft verträgt keine Nachfragen. Es wird als ewige Aufgabe der NATO dargestellt, Kriege zu verhindern. Dies erfolgt gegen die Geschichte, gegen Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001–2021 und Libyen 2011, noch dazu völlig ahistorisch. Nur einmal ganz gegen Ende blitzt auf, dass die NATO sich deutlich verändert hat und es nunmehr einen globalen Dominanzanspruch gibt. Jetzt soll es auch gegen China gehen. Dazu müssen die Europäer mehr aufrüsten. Die Filmemacher beschwören den Schlaf der Vernunft. Die Monster laufen dann schlicht durchs Bild. Keiner muss, keiner soll ihren Hintergrund kennen. Es tut nichts zur Sache. Die NATO ist ein Mythos. (rg)

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