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Aus: Ausgabe vom 06.03.2024, Seite 12 / Thema
Ökonomische Probleme

Geburtswehen des Fortschritts

Debatte. Die Erzählung von »Chinas Krise« folgt westlichen Interessen. Die Realität im Land sieht anders aus
Von Wolfram Elsner
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Industriepolitisch in eine »neue Ära«. Chinesische Arbeiter bei der Konstruktion einer Ultrahochspannungsleitung von Wuhan nach Nanchang, November 2023

In einem am 4. Januar an dieser Stelle veröffentlichten Artikel sah der Autor Marc Püschel die chinesische Volkswirtschaft an einem Scheideweg. Lucas Zeise reagierte darauf am 21. Februar mit einem Beitrag, in dem er argumentierte, China laboriere an den Problemen einer Überakkumulation. Mit dem nachfolgenden Text von Wolfram Elsner setzen wir die Diskussion um die ökonomische Lage in der Volksrepublik fort. (jW)

Der mediale Mainstream des Westens hat in Sachen China in den vergangenen zwei Jahren einen bemerkenswerten taktischen Schwenk vollzogen: vom frontalen, meist durchschaubaren und auch sichtlich abgenutzten China-Bashing hin zum »Herunterschreiben« Chinas in scheinbar rein sachlicher Sorge um das westliche Industriekapital und die westlichen Finanzinvestoren. China wird eine tiefe und systemische Krise an den Hals geschrieben. Gewarnt wird davor, dort überhaupt noch zu investieren. Westliche Buchautoren assistieren mit dem Bild vom »Peak China«, wonach das Land seinen Zenit überschritten habe und auf dem Weg »nach unten« sei. Auch keine Gefahr mehr für die US-Hegemonie! Da gibt es nun in China eine »Wachstumskrise«, eine »Immobilienkrise«, eine »demographische Krise« – »Krisen« an allen Ecken. Am besten: Alle Wessis raus aus China! Derisking statt eines allzu offensichtlich aggressiven Decouplings.

Mentale Falle für Linke?

Leider tappen auch viele kritische und China wohlwollende Beobachter in die Falle und sehen plötzlich ebenfalls nur noch Krise(n) in China, gerne dann auch eine systemische. Lucas Zeise sieht die »Immobilienkrise« als systemische Überakkumulationskrise eines normalen, wenngleich staatlich recht gut gelenkten Kapitalismus. Marc Püschel nennt eine »sinkende Wachstumsrate« des Sozialprodukts (SP) als einen zentralen Krisenindikator.

Dass die herrschende »ökonomische Sachverständigkeit« (vor allem der IWF) sich im Laufe des Jahres 2023 mit der SP-Wachstumsrate mehrfach nach oben korrigieren musste und China das Jahr mit einem Plus von 5,2 Prozent abgeschlossen hat, erfährt man eher kleinlaut. Verkannt wird aber vor allem, dass die Reduktion des Wachstums Teil der langfristigen Strategie Chinas ist. Und geradezu abenteuerlich wird es, wenn man in die Kaffeesatzleserei westlicher Thinktanks verfällt und schon ein »Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei« phantasiert.

Dieses Ziel ist ja durchaus im Visier des Westens. Ihm dient ja der ganze westliche Militäraufmarsch im Pazifik, in der Taiwanstraße und vor den chinesischen Küsten, so erklären sich ständige Beschwörungen durchgeknallter Politmonster, Generäle und Kriegsschreiber in Washington: »In spätestens zwei Jahren sind wir im Krieg mit China!«

Alle Zukunftsdebatten in den Nationalen Volkskongressen, Politischen Konsultativkonferenzen des chinesischen Volkes auf allen politischen Ebenen, der KP Chinas sowie der Zentralregierung gehen nun in Richtung auf eine Wachstumsrate von rund fünf Prozent. In China liegen inzwischen aber ganz andere Zukunftsorientierungen auf dem Tisch. Der laufende 14. Fünfjahresplan hat gar keine Wachstumsziele mehr formuliert, nicht zuletzt aus diesem Grund. Der Human Development Index der UN als alternativer gesellschaftlicher Erfolgsmaßstab zum Beispiel, wie er schon in Shenzhen und anderen Städten versuchsweise Gradmesser ist, die Neuausrichtung des gesamten Lebens auf die »Ökologische Zivilisation«¹, Diskussionen über ein »Schönes China«, das keineswegs das »reichste Land« werden will, sondern »ein wohlhabendes blühendes sozialistisches Land«, über eine »sozialistische spirituelle Zivilisation«, über »Glück« und andere Visionen für das nächste Jahrhundertziel 2049 (100 Jahre Volksrepublik China) bewegen tatsächlich das Land.

Nach der Beseitigung der absoluten Armut 2021 und nach den riesigen Brutto- und noch größeren Nettolohnschüben, bei sehr hohen Sozialabgaben der Unternehmen, der weiteren Kollektivausrichtung der Sozialversicherungen (mit ihren Umverteilungswirkungen nach unten) und den Kaufkraftschüben durch hohe Infrastrukturversorgungen gehören dazu nun zum Beispiel die neuen großen Mobilisierungen »Gemeinsamer Wohlstand/Inklusive Entwicklung«, »Duale Kreisläufe«, nach der 7. Volkszählung 2020 auch die neuen Kinder-, Familien- und Alterspolitiken, aber auch eine industriepolitisch »nächste neue Ära«. Ziel: »High Quality Development«.²

Krisen? Ja, auch! Zwei Jahre hintereinander sind jeweils fast zwölf Millionen Hochschulabsolventen abgegangen, die ihre Examina unter Corona geschoben hatten und nun Arbeitsplätze brauchen. Das müssen Ökonomie und Politik erst mal verdauen. Selbst die 13 Millionen Arbeitsplätze, die pro Jahr neu geschaffen werden, reichen da nicht, und sind auch nicht nur für Akademiker da. Die Unternehmen haben begonnen, mit praktischen Trainingsprogrammen zeitlich zu überbrücken und qualifikatorisch anzupassen. Schöner wäre, es ginge ohne arbeitslose Akademiker.

Kapitallogik wird begrenzt

Viele linkskritische Kommentatoren aber bleiben im Denken den Kategorien des Kapitals und der Kapitalreproduktion verhaftet. Dass die Kapitalrendite in China dauerhaft und gezielt unter dem Weltdurchschnitt gehalten wird (McKinsey), diese kleine Sensation zum Beispiel wird übersehen. Was für ein miserabler Kapitalismus wäre China also – wenn es als System Kapitalismus wäre, und nicht nur Kapitalismus und »Märkte« hätte und nutzte!

Wie könnte sich ein realer Kapitalismus freiwillig von seinem Exportmodell verabschieden? China tut das erfolgreich seit Ende der 2000er Jahre und hat seinen prozentualen Exportüberschuss Richtung null (2018) geführt (mit Ausreißern nach Corona, in jedem Fall aber deutlich unter dem der EU und Deutschlands). China hilft Afrika, sich zum eines Tages gleichwertigen industriellen Kontinent zu entwickeln, von dem es schon jetzt gezielt die ersten neuen Industriegüter importiert. Das riskante Modell des Exportweltmeisters hat man längst dem exportabhängigen Deutschland überlassen. Bei einem Weltbevölkerungsanteil von knapp 19 Prozent hat China nur noch einen Anteil am Weltexport von knapp 16 Prozent. Faktor gut 0,8. Deutschland: Faktor 6,6!

Nirgendwo in China können die Kapitalisten ungehemmt eine Maximalrendite verfolgen. Das fängt bei den »Crackdowns« auf die Oligopole an und hört beim gewaltigen Ausbau der sozialen Infrastrukturen auf. Mit Kapitalismus wäre das nicht machbar. Viele internationale Beobachter warnen deshalb vor falschen Narrativen: »Schwaches China? Starke USA? Schauen Sie noch mal genauer hin.«³

Die »Krise der Alterung«, Chinas schrumpfende und alternde Bevölkerung, wird im bürgerlichen Mainstream gern skandalisiert. Der bleibt natürlich im Denken den Kategorien eines neoliberal ruinierten kapitalistischen Systems verhaftet, das bekanntlich keinerlei Handlungsmöglichkeiten mehr gegenüber irgendeinem der großen gesellschaftlichen Strukturprobleme hat, weder zu Schrumpfung, Alterung noch etwa zur beschleunigten Ausbreitung des Armutssektors.

Die betreffende chinesische Diskussion läuft heute schlicht und entspannt unter der Devise »­People, not Numbers!«⁴ Und schon lange sind riesige Sozialprogramme angelaufen, von verbesserter Mutterschaftsversicherung über die Entlastung der Familien und der Schulkinder, über ein seit 2018 aufgebautes dichtes Netz von sozialen Bürgerzentren mit Kinderversorgung⁵ bis hin zu einer innovativen und mobilisierenden Altenpolitik.

Beispiel Kinder: Shenzhen allein hat bis 2023 340 kinderfreundliche Bereiche in der Stadt geschaffen, 720 Kinderbetreuungseinrichtungen und 1.150 Babybetreuungsräume. Das städtische Programm läuft bis 2030.⁶ Die Nachhilfekonzerne für die Schulkinder sind verboten worden, der Leistungsdruck und die finanzielle Belastung der Familien haben abgenommen. Die altersgestaffelte zeitliche Begrenzung des Videospielens pro Woche wirkt und entlastet die Kinder mental und psychisch, ihre Familien und die Lehrer.

Beispiel Ältere: Bei einem Renteneintrittsalter von 50 (Industriearbeiterinnen), 55 (sonstige Frauen) bzw. 60 (Männer) und einer steigenden Lebenserwartung von nun fast 79 Jahren (USA: 77) berechnen McKinsey und Bloomberg für China das weltweit (nach Südkorea) höchste prozentuale Sozialproduktspotential von 13 Prozent (bzw. vier Billionen Dollar) durch eine entwickelte Greyhair- oder Silver-Economy, in der arbeitswillige Ältere flexibel weiter arbeiten können, in der Einkommen wie Produkt- und Dienstleistungsangebote und wohnungsnahe Park- und Sportinfrastrukturen für Ältere parallel entwickelt sowie Alte aktiviert werden und sich vernetzen (»Junge Alte helfen alten Alten«).⁷ Ein knapp eine Billion Dollar starkes Strukturprogramm.⁸ Kapitalismus?

Krise des internationalen Handels

Krise? Ja, auch hier: Der internationale Handel bricht ein, wie jüngst die WTO wieder berichtete. Die Medienmeute heult begeistert auf: China ist nur noch knapp Hauptexporteur in die EU und nach Deutschland. Bald wieder sind die USA Handelspartner Nummer eins. Die Welt kommt wieder in Ordnung. Die westliche Politisierung des Welthandels, die Sanktionen, Schutzzölle und Verbote gegen China wirken durchaus. Obwohl Chinas Exporte oft nur den Lieferungen westlicher Unternehmen mit Produktion in China entsprechen.⁹

Nun beklagte aber Ursula von der Leyen im Dezember 2023 in Beijing vor allem, dass auch der Export der EU (und vor allem Deutschlands) nach China eingebrochen ist. Hier machen sich nicht nur generell, wie auch bei den Importen, Deutschlands besondere Wirtschaftsschwäche, sinkende Wettbewerbsfähigkeit und die besonderen deutschen Energiekosten- und Preissteigerungen bemerkbar. Hier wirkt auch eine ganz spezielle Entkopplung.

Die deutschen (westlichen) Unternehmen in China sorgen sich verstärkt um ihre Zulieferungen aus dem Westen. Die drohen früher oder später, unter den verschärften westlichen Protektionismus, die Politisierung und Bürokratisierung der von der Leyens und Habecks, unter Entkopplung und Sanktionen zu fallen. Also macht sich das westliche Industriekapital in China zukunftsfest: Man baut die Endproduktion aus, und die wichtigsten Zulieferer müssen nach China kommen. Systemzulieferer wie Bosch, ZF oder Conti investieren seit Jahren in großem Maßstab in China, in die Produktion und vor allem in große Forschungs- und Entwicklungs-Standorte (FuE), denn China ist bekanntlich der »Fitnessclub« für deutsche Unternehmen.¹⁰ Wer nicht mit nach China kommt, wird durch chinesische Zulieferer ersetzt. Denn dort sind die Wertschöpfungsketten vollständig, effektiv und stabil, die Rohstoff- und Energieversorgung gesichert, die Arbeitskräfte qualifiziert. Die deutsche Wirtschaft baut sich in China also einen autarken Wirtschaftssektor mit kompletten Zulieferketten und chinesischen FuE-Partnern auf. Die nächste Sicherheitsmaßnahme wäre die völlige rechtliche Verselbständigung deutscher Unternehmen in ­China.

Entkopplung also, aber anders als sich die Scholz und Baerbocks das vorgestellt haben. Die erhöhte Wertschöpfungstiefe in China aber fehlt nun bei den Exporten von Zulieferprodukten Deutschlands nach China.¹¹ Die chinesische Produktion ist wettbewerbsfähiger geworden und braucht immer weniger Qualitätsgüter aus Deutschland.

Die chinesischen Kapitalinvestitionen in der EU, und vor allem in Deutschland, sind schon seit 2017 durch Politisierung, selektive Diskriminierung und Verbote in erster Linie durch Berlin fast zum Erliegen gekommen.¹² Umgekehrt führt die Politik der »Öffnung und Reform 2.0« zu erheblichem weiterem Abfluss westlichen Industriekapitals nach China. Die jüngste Umfrage der Deutschen Außenhandelskammer in China unter 566 Mitgliedsfirmen dort zeigt, dass 91 Prozent der Unternehmen nicht dran denken, sich von China zu entkoppeln. 64 Prozent sehen Verbesserungen der Lage, und mehr als die Hälfte will weiterhin expandieren (»um wettbewerbsfähig zu bleiben«).¹³ Die American Chamber of Commerce in China berichtet entsprechend aus ihrer Umfrage von 343 Unternehmen im Januar 2024 von einer verbesserten Profitabilität. 50 Prozent sehen China als Topinvestitionsstandort in der Welt. Zwei Drittel fühlen sich in China mit chinesischen Firmen gleichbehandelt!¹⁴ Sieht alles nicht wirklich nach Krise aus. Schlaue Leute bemerkten richtig, dass westliche Industrieinvestitionen in China mit knapp 160 Milliarden Dollar (2023) weiter auf Rekordniveau seien und die Berlin-Brüsseler »Steuerung von globalem Investitionskapital« eher ein Dechancing statt ein Derisking sei.¹⁵

Finanzkapital dagegen wurde 2023 erstmals seit mehr als zwölf Jahren aus China abgezogen.¹⁶ Hintergrund dafür sind die großen Zinsunterschiede zwischen China (niedrig) und der Wall Street (hoch), die zu Gewinnmitnahmen durch ausländische Industrieunternehmen, vor allem aber zu kurzfristiger spekulativer Anlage von Finanzkapital aus China raus an die Wall Street führten. Es ist das bekannte Geschäftsmodell der Fed, jegliches überschüssige Kapital in der Welt an die Wall Street zu holen, um den Dollar zu stärken. Und Washington betreibt ohnehin gezielt finanzielles Decoupling mit dem Streuen von Gerüchten, der Rückholung von Finanzkapital aus China und dem Verbot eines Listings vieler chinesischer Industrieunternehmen an der Wall Street.

Finanzinvestitionen, Schattenbanken, Banken und Banker, die sich nicht längerfristig engagieren, nicht die Realökonomie unterstützen, nicht »reale Leben verbessern«, sondern mit »fake financial innovations« nur den chinesischen Finanzsektor destabilisieren, sind nun aber auch im Fadenkreuz Beijings.¹⁷

Crackdown auf die IT-Oligopole

Halbwegs richtig erkannt wurde von den Krisenkritikern Chinas noch das gezielte Vorgehen Chinas gegen die IT-Oligopole seit 2021. Alibabas Finanzbranche Ant Group hatte in der ersten Coronapanik 2020 circa 300 Millionen Privathaushalten schnelle Kleinkredite im Gesamtumfang von circa 330 Milliarden Dollar vermittelt. Trickreich, indem die Kredite an reguläre Banken weitergereicht wurden, die die Risiken trugen und mit 20 Prozent Eigenkapital hinterlegen mussten. Die Ant Group hielt nur zwei Prozent des Kreditvolumens als Eigenkapital. Schnell stellte sich auch heraus, dass es sich um Knebelverträge handelte, aus denen die Kunden nicht mehr ohne weiteres herauskamen. Mehrere Warnungen der Finanzaufsicht (wahrgenommen durch die Zentralbank, die Chinesische Volksbank) und der Wettbewerbsbehörde schlug die Ant Group in den Wind. Nachdem Jack Ma noch eine freche Rede gegen zu viel Regulierung in China gehalten hatte, wurde er schließlich vorgeladen. Ergebnis: Alibaba ist heute entflochten, die Ant Group eine selbständige reguläre Bank mit genügend Eigenkapital.

Bei der Gelegenheit wurde die ganze Branche aufgeräumt. 37 große IT-Konzerne wurden 2022 vorgeladen. Im Ergebnis wurden alle Funktionskopplungen von Verkaufsplattformen (zum Beispiel Taobao) mit eigenen Finanzdienstleistern (zum Beispiel Ant Financial/Alipay) aufgelöst, die Exklusivität der Verkaufsplattformen für die Bauern, Händler, Gewerbetreibende und Haushalte wurde beendet, so dass sie auf allen Plattformen gleichzeitig inserieren können, die Interoperabilität zwischen den Plattformen »mit einem Click« erzwungen. Einzelnen Plattformen wie den Lieferdiensten (zum Beispiel Meituan) wurde genauer auf die Finger geschaut, etwa hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der Fahrer. Auch das neue Datenschutzgesetz von 2022 mit seiner Option für die privaten Nutzer, jedwede private Datensammlung mit einem Klick komplett zu unterbinden, wurde bei der Gelegenheit durchgesetzt. Auf ein entsprechendes Zurechtstutzen der IT-Monopole durch Washington oder Brüssel wartet man seit Jahren vergeblich. Die bekommen im Gegenteil noch staatliche Zensurermächtigungen.

Am Ende stand ein gestutzter und stärker wettbewerblicher IT-Sektor – und, wie in regelmäßigen internationalen Erhebungen festgestellt¹⁸, ein gestiegenes Vertrauen der Chinesinnen und Chinesen in Gesellschaft, Regierung und Partei sowie ein gewachsenes allgemeines Glücksgefühl.¹⁹ Bei beiden Parametern steht China seit einigen Jahren auf Platz eins der Weltrangliste.

»Immobilienkrise« und Wohnrecht

Dass es sich bei der chinesischen Immobilienkrise um etwas ähnliches handeln könnte, ist keinem Krisenbeobachter in den Sinn gekommen. Hier sitzt man völlig dem Mainstreamnarrativ auf. Auch die Immobilienkrise ist nämlich ganz wesentlich ein Crackdown auf die überspekulierten Immobilienoligopole, von denen nun mindestens drei Große gezielt in die Pleite entlassen werden, während deren Banken, wie die Regierung sagt, jetzt die Verluste zu tragen haben.²⁰ Rettungsaktionen bleiben bewusst aus. Der Bausektor wird in der Tat in seiner gesamtwirtschaftlichen Bedeutung herunterkorrigiert, zugegeben, vielleicht etwas spät, aber entsprechend dem chinesischen Prinzip des Experimentierens, Laufenlassens, Lernens und (erst dann) Regulierens. Die Bauvorhaben der Abwicklungskandidaten werden staatlich oder von anderen Privaten zu Ende gebaut. Nirgendwo liegen Baustellen brach (soweit ich Ende 2023 erkennen und erfragen konnte).

Die bisher so einfache Anlage der hohen Ersparnisse wohlhabender chinesischer Familien und Clans in spekulative (und oft ungenutzt gelassene) Dritt-, Viert- oder Fünftwohnungen wurde allmählich umgelenkt. Die Hunderte von Millionen Chinesen mit mittleren Einkommen haben inzwischen ganz andere Angebote, ihre hohen Ersparnisse zu investieren, namentlich in Industriebonds und Fonds für die »Einhörner« der vielen Gründer (53 Prozent davon Frauen).²¹ Das derzeit überschüssige Angebot dieser Spekulationswohnungen wird nun auf Vorschlag der Zentralbank staatlich aufgekauft und den unteren Einkommensschichten, vor allem den Wanderarbeiterfamilien, günstig zur Verfügung gestellt, die nach langjährigen staatlichen Programmen maximal fünf Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgeben sollen (»affordable housing«).²² Im Wohnungsbauprogramm von Shenzhen wird das bereits exemplarisch vorgeführt.²³

»Nächste neue Ära«

Ein zentrales Stichwort, »unzulängliche Produktivitätssteigerung« (die oberhalb der Einkommenssteigerung erforderlich ist), geistert in den »Peak-China«-Szenarien herum. Der laufende 14. Fünfjahresplan sieht eine Steigerung oberhalb des SP-Wachstums vor, was die klassische »Falle des mittleren Einkommens« fast aller anderen bisherigen Aufsteigernationen klar vermeidet. Der Crackdown auf »alte« Industrien mit kumulativen Netztechnologien (IT-Sektor), typischen Überkapazitäten und oligopolistischen Rentier-Profiten (IT, Immobilien) bekommt nun einen Kontext: China will weg von unproduktiven Strukturen zu einem neuen Schub des industriellen Upgrading, innovationsbasiert, digitalisiert, dekarbonisiert, mit neuen Sektoren wie »New Energy« (Solar, EVs, Batteriespeicher, Wasserstoff) oder »New Materials«, KI-basiert und getrieben durch junge Gründer.

Xis kürzlich erfolgte symbolische »Reise in den Norden«, nach Heilongjiang und Jilin (analog zu Dengs legendärer »Reise in den Süden« 1978) wurde zum wichtigen Signal für eine Weiterentwicklung der entsprechenden Idee der Dualen Kreisläufe: Auch »alte« Industrien mit einfachen Produkten sollen in China erhalten bleiben, um unabhängiger von westlichen Sanktionen zu werden und keine minderwertigen Arbeitsplätze zu exportieren. Sie werden nun aber vollautomatisiert, erneuern den altindustriellen Norden und bringen Produktivitätsschübe (»Industrie 5.0«). Der Binnenkreislauf zieht so inneres Angebot, innere Kaufkraft und Nachfrage sowie Infrastrukturausbau hoch. Der äußere Kreislauf besagt: Handel treiben mit jedem, der dazu bereit und verlässlich ist. Das bedeutet vor allem intraindustrieller Handel mit den 150 Partnerländern entlang der »Neuen Seidenstraße«. Beide Kreisläufe zusammen ermöglichen also zugleich Unabhängigkeit und Entwicklung im Innern und erhöhte internationale Offenheit.²⁴

Kapitalismus könnte das alles gar nicht. Was wir also in Wirklichkeit sehen, sind nicht »Krisen« von systemischem Ausmaß, kein Infrastrukturzyklus und auch keine kapitalistische Überakkumulationskrise, zu der naturgemäß auch chinesisches Kapital tendiert, sondern die Geburtswehen eines gezielt vorangetriebenen gesellschaftlichen Fortschritts, ja, eines sozialistischen Schubs²⁵, für den es noch zahlreiche andere Indizien gibt: Verstärkte, von der KP organisierte Klassenkämpfe in den Unternehmen, Druck auf die Multimillionäre, Mobilisierungen und Diskussionen zu neuen Alltagsethiken, lebenswerte Millionenstädte, Synergien zwischen ökologisierter Landwirtschaft, den gigantischen neuen Waldgebieten, dem Tourismus und der Armutsbeseitigung und vieles mehr. Dass so was unter täglicher Kriegsbedrohung vor Chinas Küsten überhaupt möglich ist, ist das eigentlich Frappierende der Geschichte.

Anmerkungen

1 Vgl. W. Elsner: Die grüne Hoffnung. China auf dem Weg zu einer neuartigen ökologischen Zivilisation, junge Welt, 8.12.2022

2 China Macro Group, Structural transitions, CMG Insight #17, 28.2.24

3 N. Spiro: A resilient US economy and weak recovery in China? Think again, South China Morning Post (SCMP) 16.6.2023

4 Focus on people not numbers, China told, as it faces unavoidable birth decline, www.channelnewsasia.com/asia/, 12.12.2023

5 W. Hirn: Neue Center, www.chinahirn.de, 28.2.2024

6 J. Cham, K. Chung: What Hongkong can learn from child-friendly Shenzhen, SCMP, 6.2.204

7 Golden Years, mckinsey.com, 8.11.2023

8 S. Ma: China population: US$970 billion ›silver economy‹, SCMP, 28.2.2024

9 H. Flassbeck: Mythos China – warum wir das Land nicht verstehen können und wollen, www.relevante-oekonomik.com, 21.10.2023

10 J. Wuttke: WirtschaftsWoche, 2.5.2021

11 H. Bork: China ist weiterhin Deutschlands wichtigster Handelspartner, www.maschinenmarkt.vogel.de, 22.2.2024; J. Kronauer: Krise um China-Handel, jW, 24./25.2.2024

12 A. Reich: Europa auf Anti-China-Kurs, jW, 26.2.2024

13 https://www.ihk.de/hannover, 29.1.2024

14 https://www.china-briefing.com/news, 7.2.2024

15 Hellmeyer-Report 7.11.23, 15.2.2024

16 M. Zuo, R. Jennings: In ‘finance war’ with US , SCMP, 28.2.2024

17 M. Zuo: Beijing warns China’s US$63 trillion financial sector: serve real economy and enrich lives, SCMP, 23.2.2024

18 Edelman Trust Barometer 2024, www.edelman.com/sites, 24.1.2024

19 Ipsos, Global Happiness 2023, www.ipsos.com/sites, 15.3.2023

20 SCMP, 21.11.23, 28.11.2023

21 China Charts, realchinacharts@substack.com, 18.10.23. Einhorn bezeichnet ein Startup-Unternehmen mit einer Bewertung von über einer Milliarde US-Dollar oder Euro, dessen Anteile nicht an einer Börse gehandelt werden.

22 SCMP, 3.12.2023

23 Bloomberg, 23.11.2023

24 China Macro Group, CMG Insight #17, 28.2.2024

25 »… headwinds as China transitions to a new model of economic development« (S. Narine: Why the West’s resentment of China is so misguided, Asia Times, asiatimes.com, 27.2.2024)

Wolfram Elsner lehrte Volkswirtschaft an der Universität Bremen. Im Mai 2022 erschien von ihm im Kölner Papy-Rossa-Verlag der Band »China und der Westen«.

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  • Leserbrief von Paul Vesper aus 52062 Aachen (11. März 2024 um 09:19 Uhr)
    »Die Wahrheit ist immer konkret«, sagt W.I. Lenin. Nach diesem methodischen Grundsatz ist der kenntnisreiche Artikel meines Kölner Studienkollegen Wolfram Elsner verfasst. Danke Wolfram! Dein Artikel bereichert die Debatte, ob die chinesische Gesellschaft eine sozialistische ist. Mir selbst fehlt Wissen, dazu einen Beitrag zu leisten. Paul Vesper
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (7. März 2024 um 09:25 Uhr)
    Ich möchte mich meinem Vorredner anschließen. Vielen Dank! Es hat echt gut getan, zu lesen, dass es doch noch Hoffnung und positive Entwicklungen gibt, wenn auch in einem fernen Land. Neulich schrieb ich noch, dass man unseren »Wirtschaftsweisen« mal die Wachstumsdefinition von quantitativ auf qualitativ umbiegen sollte, und dann lese ich hier, dass China das schon umsetzt. Klasse! Mit diesem (!) »China-Virus« sollte die ganze Welt infiziert werden. ;-)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in André M. aus Berlin (6. März 2024 um 09:38 Uhr)
    Herzlichen Dank für die drei höchst lesenswerten, anregenden und fundierten Texte zur aktuellen Entwicklung der VR China. Der isolierte (sich selbst isolierende) Westen ist intellektuell nicht in der Lage den Zustand der Welt sachlich zu reflektieren. Deshalb lese ich Junge Welt. Ich muss diesen Text als den überzeugendsten der drei bezeichnen, da er nicht allein isoliert auf Symptome der ökonomischen Entwicklung schaut, sondern bemüht ist, diese in die gesellschaftliche und soziale Entwicklung einzuordnen und damit die hierzulande herrschenden ökonomischen Denkmodelle zu verlassen. Was notwendig ist.

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