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Aus: Ausgabe vom 06.03.2024, Seite 6 / Ausland
Israel

Politik des Glaubens

Wir oder sie: Israels festgefahrene politische Krise entlädt sich in Gaza. Rationale Stimmen an den Rand gedrängt
Von Shir Hever
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Umgeben von Soldaten: Ist das Militär Netanjahus Ausweg aus der politischen Krise? (Eli, 30.1.2024)

Im Vorfeld des Ramadan am kommenden Wochenende plant die israelische Regierung eine Reihe von Provokationen, die das Recht der Muslime auf das Gebet in der Al-Aksa-Moschee einschränken. Die militärische und politische Krise, in der sich Israel befindet, könnte sich schnell zu einem Mehrfrontenkrieg ausweiten und den Zusammenbruch der Friedensabkommen mit den arabischen Nachbarländern zur Folge haben. Während Israel verspricht, den Vorgaben des Internationalen Gerichtshofs zu folgen, hat seine Armee am vergangenen Donnerstag mehr als 100 Menschen getötet und über 700 verletzt, als sie auf Nahrungsmittel warteten.

Für außenstehende Beobachter scheint es schwer zu erklären, wie irrational die israelische Regierung geworden ist. Während Katar eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung des Gefangenenaustauschs zwischen Israel und der Hamas spielt, ergreift Israel Maßnahmen, um den in katarischem Besitz befindlichen Sender Al-Dschasira zu verbieten. Während Israel auf dem Schlachtfeld fast nichts gegen die Hamas erreicht, sondern statt dessen jeden Tag Dutzende unbewaffneter Zivilisten tötet, will es gegen den Rat seiner eigenen Generäle mit einem völkermörderischen Angriff auf Rafah beginnen. Während Israel unter beispiellosem internationalen politischen Druck steht, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, und der Internationale Gerichtshof ein Verfahren wegen Völkermordes eingeleitet hat, werden Krankenhäuser angegriffen und dabei Patienten wie medizinisches Personal getötet. Der Minister für Kulturerbe von der ultrarechten Partei Otzma Jehudit (»Jüdische Stärke«), Amihai Eliyahu, hat die Irrationalität gut veranschaulicht, als er im November zum Abwurf einer Atombombe auf Gaza aufrief. Seine Aussage war illegal, doch obwohl die Existenz der israelischen Atomwaffen ein streng gehütetes Geheimnis ist, wurde Eliyahu nicht bestraft, sondern lediglich zwischenzeitlich suspendiert.

Dieses scheinbar irrationale Verhalten lässt sich verstehen, wenn man die jüngsten politischen Entwicklungen in Israel betrachtet, die die Irrationalität selbst zu einem Wert gemacht haben. Wie kann Gott Israel retten, wenn es nicht wie ein Wunder aussieht? Andernfalls könnte es so aussehen, als ob die Krise durch die Bemühungen der Menschen beendet worden wäre.

Die fünf politischen Blöcke in Israel sind (1) der traditionelle Arbeiterzionismus, der Israel zwischen 1948 und 1977 regierte und heute einen Großteil der zionistischen Opposition bildet. Er ist säkular, militaristisch, nationalistisch und war früher (für Juden) sozialistisch; (2) der nationalistische rechte Flügel, der liberale und neoliberale Wurzeln hat, sich aber in einen populistischen und offen rassistischen Trumpismus verwandelt hat; (3) ein ultraorthodoxer nichtzionistischer Block, der sich aus pragmatischen Gründen mit den Zionisten verbündet und sich zum Komplizen ihrer Verbrechen gemacht hat; (4) ein nationalreligiöser Block, der oft mit der Siedlerbewegung im Westjordanland in einen Topf geworfen wird, und schließlich (5) die diskriminierte und unterdrückte nichtzionistische Linke, die palästinensische Parteien mit einer Vielzahl von politischen Ansichten umfasst. Da die meisten Palästinenser unter israelischer Kontrolle staatenlos sind und kein Wahlrecht haben, war die fünfte Gruppe nie in der Lage, mehr als ein Sechstel der Sitze im Parlament zu kontrollieren.

Obwohl es die Arbeiterpartei war, die die ersten illegalen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten errichtete, verschaffte ihnen die Likud-Partei politische Legitimität, indem sie die Idee eines palästinensischen Staates ablehnte und die jüdische Souveränität über das gesamte Gebiet Palästinas festschrieb. Den Siedlern wurde erlaubt, ohne Genehmigung Häuser zu bauen und palästinensisches Land mit Gewalt und unter dem Schutz des Militärs zu besetzen. Die israelische Historikerin Idith Zertal und der Politikwissenschaftler Akiva Eldar nannten sie in ihrem Buch über die Siedlungspolitik »die Herren des Landes«. Der Ausbau der Siedlungen geschah außerhalb der Gesetze, und die Regierungen drückten ein Auge zu.

1977 konnte der Rechtszionismus zum ersten Mal eine Regierung bilden. Mit wenigen Unterbrechungen – wie der Regierung Jitzchak Rabins, die Anfang der 90er Jahre die Osloer Abkommen unterzeichnete – dominiert dieser bis heute die politische Sphäre. Doch der rechte Zionismus der 70er und 80er Jahre ist nicht derselbe wie die populistische Bewegung von heute. In den 80er Jahren wurde die kahanistische Bewegung, die von Rabbi Meir Kahanes Lehre inspiriert war, alle Araber zu töten oder aus dem Land Israel zu vertreiben, von der rechtsgerichteten Likud-Partei verdrängt. Es war Benjamin Netanjahu, der derzeitige Vorsitzende derselben Likud-Partei, der die kahanistische Bewegung beschönigte und zuließ, dass Itamar Ben-Gvir, ein in Israel verurteilter Terrorist, Minister für Nationale Sicherheit werden konnte.

Da koloniale Gesellschaften immer zu einem Anspruchsdenken und einer Wir-oder-sie-Mentalität neigen, hat sich die Korruption in der israelischen Gesellschaft auf allen Ebenen ausgebreitet. Die fünf Blöcke politischer Parteien in der israelischen Politik haben die Fähigkeit verloren, sich gegenseitig zu tolerieren, und führten zwischen 2019 und 2022 in eine politische Krise mit fünf Wahlgängen in vier Jahren.

Netanjahus Populismus und sein Bündnis mit gefährlichen Elementen in der Siedlerbewegung, die offen für jüdische Vorherrschaft, »ethnische Säuberung« und sogar Völkermord eintreten, haben beim Arbeiterzionismus die Sorge ausgelöst, dass Netanjahu eine diplomatische und wirtschaftliche Katastrophe heraufbeschwören wird. Die Regierung des Liberalen Jair Lapid (Jesch Atid) und Naftali Bennett (Neue Rechte) zwischen 2021 und 2023 basierte auf einem verzweifelten Appell zu rationalem Handeln, strategischer Planung und Kompromissen, um einen Apartheidstaat zu erhalten, in dem Juden weiterhin Privilegien genossen, für die guten Beziehungen zum Westen aber der Schein der Demokratie gewahrt wurde. Es handelte sich um eine Koalition aus acht politischen Parteien (ein noch nie dagewesenes Phänomen), die auf einem brüchigen Kompromiss beruhte, der sie fast vollständig lähmte.

Im Jahr 2022 wurde Israel in vier Berichten von Menschenrechtsorganisationen beschuldigt, ein Apartheidstaat zu sein. Die Regierung Lapid-Bennett hatte keine Antwort auf diese Anschuldigung, trotzdem erhielt Israel weiterhin Unterstützung aus dem Westen, insbesondere aus den USA und aus Deutschland. Das ist der Grund, warum Netanjahu und seine nationalreligiösen Verbündeten bei den Wahlen im November 2022 so erfolgreich waren. Ihr Argument war einfach, dass ein Kompromiss unnötig sei. Der Westen unterstützt Israel weiterhin, auch wenn es offensichtlich ein Apartheidstaat ist. Mit der Übernahme von Schlüsselpositionen in der Regierung, im Ministerium für Nationale Sicherheit und im Finanzministerium durch ultrarechte Siedler, warum so tun, als sei man eine Demokratie?

Die Führer des nationalreligiösen Zionismus glauben nicht, dass es der zynische Imperialismus der US-Regierung oder der gierige Militarismus der deutschen Regierung (»Staatsräson«) war, der die fortgesetzte westliche Unterstützung für Israel trotz seiner Apartheidpolitik sicherstellte. Sie glauben immer noch, dass es in den von Israel kontrollierten Gebieten eine jüdische Mehrheit gibt, obwohl das nicht stimmt. Sie glauben, dass das Militär irgendwie einen Weg finden wird, die Hamas zu besiegen, wenn Israel keinen Waffenstillstand unterschreibt. Vor allem aber glauben sie, dass Gott den von ihnen kontrollierten Staat Israel zur Erlösung führt.

Der Verzicht auf den Anschein von Demokratie bedeutet auch, dass kritische Stimmen in Israel verstummen. Die Militärzensur bringt diese in den Medien zum Schweigen, das Parlament suspendiert seine Mitglieder aus den nichtzionistischen Parteien, die einen Waffenstillstand fordern, und selbst Soldaten werden daran gehindert, die Nachrichten zu hören.

Wo sind die rationalen Stimmen, die zionistischen Oppositionskräfte, die dem Wahnsinn Einhalt gebieten könnten? Eine mögliche Erklärung für ihre Ohnmacht ist der Völkermord. Israelis lernen von klein auf etwas über Genozid und wissen, dass Staaten, die in der Neuzeit Völkermord begehen, ob in Ruanda, Serbien oder Darfur, danach immer einen tiefgreifenden Regimewechsel erleben. Sie wissen, dass die zionistische Bewegung am Ende ist, und haben daher keinen Anreiz, dringend etwas zu unternehmen, um ihren Staat zu retten.

Der aus Israel stammende Wirtschaftswissenschaftler Shir Hever ist Vorstandsmitglied der »Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (6. März 2024 um 17:23 Uhr)
    Danke für diesen überaus wichtigen und klugen Artikel! Die einzig mögliche Empfehlung lautet: Lesen! Lesen! Lesen!

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