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Aus: Ausgabe vom 24.02.2024, Seite 1 / Titel
Kriegsertüchtigung

Ampel zerlegt Sozialstaat

Finanzminister Lindner will Aufrüstung mit Kürzungen finanzieren. Armutsforscher spricht von »sozialpolitischer Zeitenwende«
Von Raphaël Schmeller
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Lindner am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner«: »Das Wichtigste ist, dass keine neuen Sozialausgaben dazukommen«

Die Ampelkoalition will Deutschland kriegstüchtig machen. Und weil das ins Geld geht, führt für Finanzminister Christian Lindner kein Weg an Sozialkürzungen vorbei. Ein »mehrjähriges Moratorium bei Sozialausgaben und Subventionen« sei nötig, um mehr in die Aufrüstung investieren zu können, erklärte der FDP-Politiker am Donnerstag abend bei »Maybrit Illner«. Clemens Fuest, Präsident des kapitalnahen Ifo-Instituts und ebenfalls Gast der ZDF-Sendung, fügte zustimmend hinzu: »Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge. Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht. Sondern Kanonen ohne Butter.« Der Sozialstaat werde noch nicht abgeschafft, »aber er wird kleiner«, so ­Fuest. Auch die dritte in der Runde, die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang, sagte, Deutschland müsse mehr Geld in die Hand nehmen, um die Ukraine zu unterstützen und Europa bei der Verteidigung unabhängiger von den USA zu machen.

In der vergangenen Woche hatte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Münchner Sicherheitskonferenz angedeutet, dass Kürzungen bei Renten und Sozialausgaben nötig sein könnten, um die Verteidigungsausgaben langfristig zu erhöhen. »Deutschland investiert dieses Jahr und auch in den kommenden Jahren, in den Zwanziger-, den Dreißigerjahren und darüber hinaus zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung«, so Scholz auf der Konferenz. Er fügte hinzu: »Mein Ziel ist es, dass wir nach dem Auslaufen des Sondervermögens die Ausgaben für die Bundeswehr aus dem allgemeinen Haushalt finanzieren.« Nach Berechnungen des Spiegels würde das im Jahr 2028 Ausgaben von 107,8 Milliarden Euro bedeuten. Zum Vergleich: Der aktuelle Verteidigungsetat des Bundes beträgt 51,9 Milliarden Euro. Um diese Ausgaben zu decken, müsste also an anderer Stelle gekürzt werden – an welcher, hat Lindner nun bekanntgegeben.

Der Armutsforscher Christoph Butterwegge verurteilte die »sozialpolitische Zeitenwende« der Ampelkoalition am Freitag gegenüber jW. »Was von Christian Lindner als Moratorium erklärt wird, läuft in Wahrheit auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates hinaus. Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die Ausgaben aber nicht mehr mitwachsen dürfen, handelt es sich um reale Kürzungen in diesem Bereich«, so Butterwegge. Deutschland stehe vor der Alternative: Rüstungs- oder Sozialstaat. »Setzen sich Bum-Bum Boris Pistorius, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Co. mit ihren Hochrüstungsplänen durch, wird sich die schon jetzt auf einem Rekordstand befindliche Armut noch verschärfen.«

Auch der Bundestagsabgeordnete und BSW-Generalsekretär Christian Leye kritisierte Lindners Ankündigung scharf: »Während Rüstungskonzerne Dividendenpartys feiern, sollen Menschen, die ohnehin auf dem Zahnfleisch gehen, noch mehr bluten«, erklärte er gegenüber dieser Zeitung. »Dass sich Vertreter der Regierungsparteien am Wochenende gegen rechts auf die Straße trauen, obwohl sie den Rechten die Wähler von Montag bis Freitag in die Arme treiben, grenzt an Hohn.«

Nach einem Bericht der Financial Times vom Freitag hat weltweit kein Rüstungskonzern so stark vom »Revival der europäischen Verteidigungspolitik« profitiert wie Rheinmetall. Die Düsseldorfer rechnen bis 2026 mit einer Verdoppelung des Umsatzes auf bis zu 14 Milliarden Euro.

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  • Leserbrief von Lothar Böling aus Düren (23. Februar 2024 um 22:12 Uhr)
    Finanzminister Lindner hat von Finanzpolitik, so viel Ahnung, wie vom Wasserkochen. Lindner ist unfähig zu erkennen, wann ihm der Kessel um die Ohren fliegt. Wer Sozialausgaben und Subventionen nicht erhöht, der senkt die Inlandsnachfrage und schädigt die Wirtschaft. Denn den Euro, den man nicht hat, kann man nicht ausgeben. In Großbritannien hat dieser Sozialkahlschlag bereits zu einem erheblichen Anstieg der Obdachlosigkeit und Kriminalität geführt. Möglich das es Lindner mal so geht, wie der schwarzen Null. Auch Schäuble war nicht in der Lage zu erkennen, welche Folgen politische Fehlentscheidungen, wie die Unterstützung der Ukraine und Sanktionen gegen Russland haben. Wenn das Wirtschaftswachstum der viertgrößten Exportnation gegen null geht, dann sind die Schuldigen eindeutig in der Regierung zu suchen und nicht bei Rentnern, Arbeitslosen und Bauern. Geld für Knallkörper (Bomben, Granaten, Raketen) ausgeben, kann jeder Idiot. Schon schlimm, wenn einem sonst nichts einfällt, um den Export zu steigern. Wie einfältig und kleinkariert muss man sein, zu glauben, dass Rüstungsausgaben eine ganze Volkswirtschaft beleben? Vor allem, wenn man die Waffen auch noch in den USA kauft! Als wesentlicher Teil der dümmsten Regierung Europas ist Lindner maßgeblich verantwortlich für die hohen Preise. Unverständlich, dass sich die Wirtschaft das gefallen lässt bzw. schweigend ins Ausland abwandert. So viel Schwachsinn ist ja auf die Dauer auch nicht auszuhalten.
  • Leserbrief von Holger K. aus Frankfurt (23. Februar 2024 um 19:59 Uhr)
    Jetzt zeigt der Kapitalismus, allen voran der Imperialismus – als dessen Ableger –, sein wahres Gesicht, also eines ohne Schminke und Gesülze. Was schon seit geraumer Zeit Unternehmer über Sozialausgaben sagten, nämlich bloßer Sozialklimbim, wird nun systematisch zu Grabe getragen. Gäbe es keine reaktionäre Ukraine, sie müsste dann erfunden werden, denn irgend einen Vorwand braucht die Bourgeoisie schon, um ihren gnadenlosen Klassenkampf von Oben zu entfesseln. Mit dem bloßen Hinweis auf Leute wie den Florida-Rolf allein ist es indes nicht getan, da muss schon der drohende Untergang des Werte-Abendlandes als Schreckgespenst an die Wand gemalt werden, hoffend, dass dies selbst das gemeine Fußvolk begreift und wenn nicht, dann gibt es ja noch die Polizei, die Widerspenstige in die gebotene Schranke weist und das dann nicht sanft und knapp, sondern ungemein brutal. Ist schon der Kapitalismus für Abermillionen Menschen eine recht ungemütliche Angelegenheit, erst recht, wenn der sich in seiner Machtentfaltung und Profitgier angegriffen und bedroht sieht. So reagierte schon einst der Adel, die Kirche mit ihren Hexenverbrennungen, den Judenverfolgungen und nun die Dämonisierung Putins sowie Russland allgemein. Dabei folgt automatisch jede Aggression nach Außen zielsicher eine nach Innen, das konnte man bevorzugt im letzten Jahrhundert anschaulich feststellen. Ohne Kampf von Unten, wird es hierzulande immer schlimmer werden.

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