Berlinale. Unfassbar lässig
Von Christian MeyerDer Film begleitet Titelfigur, den Jazzer Tobias »Tobby« Fichelscher, Anfang der 1960er durch Berlin. Tobby spielt sich durch verrauchte Kellerclubs, hängt in Kneipen ab, trifft Freunde und Affären. Mit seinen beiden Söhnen und der geschiedenen Frau wohnt er in einem Reihenhaus. Den Beziehungsstatus würde man heute wohl als kompliziert bezeichnen. Immer wieder sieht man ihn auf seinem abgerockten Rennrad durch die Stadt fahren. Im kriegszerstörten Gropius-Bau trommelt er minutenlang auf einem Metallrohr. Und das 20 Jahre vor den Einstürzenden Neubauten. Der Protagonist lässt sich treiben, hat meistens Zigarette oder Bier in der Hand und sieht unfassbar lässig aus.
Wir begleiten Tobby ins Strandbad Wannsee, das wesentlich glamouröser, zumindest weniger morbide wirkt als heute. Als er dort mit einer Frau im Sand liegt und sie sich küssen, switcht der Film plötzlich für einige Sekunden auf Farbe und zeigt eine mediterrane Küstenlandschaft. Das alles ist für einen deutschen Film anno 1961 mehr als gewagt. »Tobby« fand konsequenterweise keinen Verleih.
Tobby bekommt das Angebot, ein halbes Jahr auf Tour zu gehen, allerdings nicht, um Jazz zu spielen, sondern um Unterhaltungskost zu liefern. Ob er das Angebot annehmen soll, diskutiert er mehrmals im Film. Ein Dialog auf englisch mit einem Jazzkollegen zeigt feinstes Weltstadtkauderwelsch. »Have a Schluck.« Er solle die Tour doch spielen, denn Geld sei doch die Grundlage, die »Hopesache«. Das Problem des Sell-out hat sich also schon immer gestellt. Tatsächlich schlug man Tobias Fichelscher eine Schlagerkarriere vor. Tobby blieb aber lieber eine Art Beatnik und dem Untergrund treu. Er ist 1992 gestorben, 2013 wurde ein Album mit alten Aufnahmen veröffentlicht (»Busting the Bongos«).
»Tobby« , Hansjürgen Pohland, BRD 1961, 75 Min., »Retrospektive«, 25. Februar
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