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Aus: Ausgabe vom 23.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Bullen sind auch Menschen

Die lieben Nachbarn: André Téchinés »Les gens d’à côté« im »Panorama«
Von Maximilian Schäffer
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Im technischen Dienst der Polizei: Lucie (Isabelle Huppert, M.)

André Téchiné, 80 Jahre alt, einer von vielen Senioren bei der diesjährigen Berlinale, präsentiert seinen 26. Film. In »Les gens d’à côté« (Die Leute von nebenan) geht es nicht ums Schwulsein in der Provinz, Lieblingsthema des Regisseurs, sondern diesmal um Menschen und Bullen. Schauplatz sind dennoch wieder die französischen Pyrenäen, Heimatregion des Regisseurs.

Lucie (Isabelle Huppert) arbeitet im technischen Dienst der Polizei. Nach dem Selbstmord ihres Partners, ebenfalls Polizist, engagiert sich die Witwe bei einer progressiven Polizeigewerkschaft. Ihre Dienststelle will die Frau deswegen loswerden, auch weil sie als psychisch labil gilt. In ihrem Häuschen einem Vorort von Perpignan vertreibt sie sich die Einsamkeit mit Pflanzenzucht und dem Kochen afrikanischer Gerichte, was sie an ihren Mann erinnert, der aus dem Senegal stammte. In ihrem Alltag aus stiller Trauer und emotionaler Abschottung begegnet Lucie ihren Nachbarn, einem jungen Paar mit Tochter. Die drei wirken eher alternativ, das stört die Polizeibeamtin erstmal nicht. Sie raucht selbst gerne mal einen Joint. Als Lucie allerdings den Maler Yann (Nahuel Pérez ­Biscayart) beim Sprayen von »ACAB« (All Cops Are Bastards) erwischt, wird sie misstrauisch und kommt in Gewissens- und Berufskonflikte. Sie wühlt in der Akte des Familienvaters, und findet da einige rote Einträge und Bewährungsauflagen.

Téchiné versucht in 85 Minuten Kino die große Geste vom gegenseitigen Verständnis, bleibt jedoch sehr zurückgelehnt bürgerlich, ohne Sinn und Zweck von Protest und Ordnung näher zu erforschen. Ästhe­tiken von Lebensentwürfen werden beleuchtet, das individuelle Chaos des ideologisch nicht näher definierten »linksradikalen« Künstlers will der Regisseur als fürs Familienglück schädlich dechiffrieren. Die kleine Tochter Rose (Romane Meunier) leidet schließlich unter dem finanziellen und emotionalen Instabilitätszustand ihrer männlichen Bezugsperson. Sie will Eiskunstläuferin werden, ihre Mutter Julia (Hafsia Herzi) hält alles zusammen und hat dem Idealismus abgeschworen.

Beide Parteien kommen sich immer näher, und Lucie muss sich unweigerlich die Frage nach innerer und äußerer Loyalität stellen. Eine Frage, die nicht nur ihre Pensionansprüche, sondern auch die Beziehung zu ihrer Vergangenheit in Frage stellt. Als Nachbar Yann nämlich diverse Zubereitungen aus dem anarchistischen Kochbuch beiseiteschaffen muss, bittet er um Hilfe. Er hat kein Auto, er ist besoffen, er darf das Departement nicht verlassen. Lucie aber hat ein Auto, ist nüchtern, darf hinfahren, wohin immer sie will.

»Les gens d’à côté«, Regie: André Téchiné, Frankreich 2024, 85 Min., »Panorama«, 25. Februar

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