Folter mit Möbeln
Von Gisela SonnenburgFür manche ist er der Guru des avantgardistischen Balletts, für andere schlicht ein Scharlatan: An William Forsythe, nach dem auch das neue Programm vom Staatsballett Berlin (SBB) benannt ist, scheiden sich die Geister. Schnittig-neoklassische Posen im Kontrast zu experimentellen Bewegungen sind das Markenzeichen des gebürtigen New Yorkers. Drei Stücke des 74jährigen tanzt das SBB nun, leider nicht seine besten. Es gibt in seinem Werk ein enormes Gefälle: Einige seiner Pas de deux und frühe Gruppenstücke sind geniale Kleinoden. Anderes ist Stückwerk, an dem Forsythe jedes Mal, wenn er es neu einstudiert, noch herumpuzzelt. Die Ergebnisse befriedigen nicht unbedingt.
Das Wörtchen »JA« steht in Lettern auf der Bühne, wenn das Stück mit dem rätselhaften Titel »Approximate Sonata 2016« beginnt. »Annähernd eine Sonate«, so kann man es übersetzen, die Jahreszahl bezeichnet schlicht die letzte große Überarbeitung. Es geht um Heirat: Vier Paare führen Beziehungsmodelle vor. Das gelingt aber nur Polina Semionowa und Gregor Glocke so richtig. Der weibliche Weltstar und der männliche, begabte Gruppentänzer punkten: Einfühlsam, soft und doch sportiv hebt und dreht er sie. Die Rollenverteilung bei den Geschlechtern ist hier nicht gerade revolutionär. Aber Semionowa schafft es, trotz stark abgemagerter Figur und offenbar viel Hanteltraining eine lebendige Verliebtheit und sogar Neugierde auf ihren Partner hinzuzaubern. Glocke erwidert das. So hat der flotte Paartanz im puristischen schwarzen Trikot seinen Sinn. Ansonsten obsiegt Narzissmus.
Das zweite Stück mit dem absurd-witzigen Titel »One Flat Thing, reproduced« (»Ein flaches Ding, vervielfacht«) spielt auf, neben und unter rechteckigen Tischen, die die Bühne füllen. 14 Tänzerinnen und Tänzer foltern sich an den Möbelstücken. Sie legen ihre Beine darauf, ihre Oberkörper, quetschen sich zwischen und unter die vierbeinigen Geräte – und interagieren nur über die Tische. Vielleicht soll das Ganze eine Parodie auf den Büroalltag sein, aber genau mag sich Forsythe nicht festlegen. Bei einer Matinee sprach er nur über Dynamik und Tempo, nicht über Ausdruck und Inhalt seiner Stücke.
Diese ersten zwei Werke sind zu elektronischen Sounds von Thom Willems gestaltet, der seit 50 Jahren mit Forsythe zusammenarbeitet. Aber es ist auffallend, wie unmusikalisch der Tanzschöpfer ist. Er machte von Frankfurt am Main aus mit Provokationen seine Weltkarriere, trieb die alten Abonnenten in die Kündigung, um ein jüngeres Publikum zu begeistern.
So mit den »Blake Works I«. Sie sind zu teils bluesigen Songs des Elektronikpopmusikers und Sängers James Blake choreographiert. Doch auch hier begeistert lediglich ein Pas de deux, wieder mit Polina Semionowa, während die meisten Tänzchen eher Langeweile hervorrufen. Haruka Sassa, die neue Starballerina Berlins, sticht anmutig heraus. Man fühlt sich an die rasanten Stücke von George Balanchine erinnert. Forsythe ist da ein müder Abklatsch.
Müde war der Premierenapplaus am Freitag abend in der Deutschen Oper Berlin nun nicht. Er war sogar besonders laut. Aber mit knapp zehn Minuten war es der kürzeste Premierenjubel, den das SBB in seiner 20jährigen Geschichte jemals hatte. Dafür brüllten die Forsythe-Fans, darunter Tänzer und Workshopbesucher, so heftig, als ginge es ihnen nur um die Marke Forsythe, nicht um das, was sie faktisch gesehen und gehört hatten.
Bleibt anzumerken, dass das Niveau des Staatsballetts Berlin absackt. Das Stuttgarter Ballett hat kürzlich ein Programm zur Premiere gebracht, das auch Forsythes »Blake Works I« enthält. Gefühl und Eleganz finden sich eher in Schwaben. In Berlin obsiegt ein plumper, sportlicher Stil.
Nächste Vorstellungen: 23.2., 4.3., 10.3.
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