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Aus: Ausgabe vom 08.02.2024, Seite 16 / Sport
Rodeo

Im Tal der heiligen Goldgräber

Bullenreiten in Sacramento, Kalifornien
Von Maximilian Schäffer
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Bis das Hausrind wieder Auerochse ist, muss es springen und tanzen fürs Geld

Die Verleihung der Stadtrechte im Jahr 1850 bringt Sacramento kein Glück. Als der Sacramento River über seine Ufer tritt, ertrinken hunderte Schweine und Bullen. Eine Choleraepidemie im Winter desselben Jahres rafft die Menschen dahin – die Überlebenden verlassen das verfluchte »Heilszeichen« von einer Stadt. Überhaupt reihen sich biblische Katastrophen wie diese fast unbemerkt aneinander in der frühen Besiedlung des Wilden Westens. Wenn es nicht regnet, brennt es. Mitunter zündet man sich auch gegenseitig an.

Bekannter als die Hauptstadt Kaliforniens ist ihr Gefängnis, das Folsom State Prison, weltberühmt dank prominenter Insassen wie dem Motorradmechaniker Sonny Barger, dem Folkmusiker Charles Manson oder dem Lehrbeauftragten Timothy Leary. Allzu aufwieglerische Hippies und andere Schwerstkriminelle sperrte und sperrt man bis heute zwecks Herstellung von Autokennzeichen hier weg. Totgespritzt in der nos­talgischen Gaskammer wird das Menschenvieh seit nunmehr fast hundert Jahren drüben in San Quentin.

Wie mag sich ein Reitbulle fühlen, wenn er von Houston, Texas, hinter Gitterstäben nach Nordostkalifornien gekarrt wird? Sicher deutlich besser als mancher Artgenosse, dem nach einem Leben im Bau Bolzenschuss und Schlachtbank drohen. Besser wohl auch als manch menschlicher Häftling, für den es nicht mit acht Sekunden wöchentlicher Arbeit getan ist, und der, wenn er wild um sich schlägt, nicht mit einem ermutigenden Klaps auf den Hintern rechnen kann. Jeder Protest gegen das Bullenreiten ist ehrenvoll, alles Vieh muss frei sein. Bis das Hausrind wieder Auerochse ist, muss es springen und tanzen fürs Geld.

Apropos Geld. 100.000 US-Dollar gewann beim Event der Professional Bull Riders (PBR) am vergangenen Sonntag der 19jährige Leonardo ­Castro Ferreira aus Zentralbrasilien. Der englischen Sprache nicht mächtig, channelte er durch seinen Dolmetscher die Lobpreisung Gottes des Allmächtigen sowie demütigen Dank für den Sieg.

Es war ein Wochenende der ganz jungen, ganz schmalen Männer. Zweiter wurde der 18jährige, texanische Hoffnungsträger John Crimber, dessen Milchgesicht auf 1,69 Meter Körpergröße im Angesicht der 800 Kilo schweren Bullen unweigerlich Fragen nach dem Sorgerecht aufwerfen. Sein Vater, Rodeoveteran, wird es anders sehen. Freudig geherzt wurde Crimber von seinem besten Freund, dem ebenfalls erst volljährigen Clay Guiton in grüner Lederhose, der nach einem brutalen Schleudertrauma durch den Bullen Brusta nach bereits 2,39 Sekunden immer noch überraschend quirlig wirkte. Ob sie die Nacht zusammen zur Musik von Taylor Swift verbrachten, ist unbekannt. Beide sind – wie die halbe Welt – enthusiastische Fans.

Caden Bunch, der ebenso handschmale 20jährige Cherokee aus der Reservation, meldete sich zum zweiten Mal in Folge erfolgreich zurück. Zweiter in der Vorrunde, reichte es beim großen Finale gegen die breitesten Bullen für ihn nicht zu einem Platz auf dem Treppchen. ­Bulle ­Ricky Vaughn meinte es gut mit Bunch und warf ihn zwar schon nach 5,5 Sekunden ab, ließ den Knaben aber stabil auf beiden Beinen landen.

Der übliche Betrieb des Rodeowanderzirkus nahm seinen Lauf, es war jedoch zu beobachten, dass die Bullen sich an diesem Wochenende übermäßig aggressiv verhielten. »Das ist irgendwas im Wasser, hier in Kalifornien«, meinte der TV-Kommentator. Die Tiere drehten aufgescheuchte Extrarunden durch die Arena. Einer der Bullenkämpfer konnte gerade noch auf ein Gatter springen, um der Durchbohrung durch die Hörner zu entgleiten. Cassio Dias, die Nummer eins der Weltrangliste, wurde vom massigen Erik The Red mit dem vollen Hinterteil des Bullenleibs begraben, sorgte für allgegenwärtiges Kreischen und humpelte schmerzverzerrt von dannen.

Nicht ganz 200 Jahre nach der Stadtgründung war immer noch kein gutes Omen zu verspüren, im »heiligen« Sacramento, wo man seit letztem Jahr die Obdachlosen, bei gutem Benehmen, versuchsweise in Zwerghäuser aus Wellblech sperrt.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Toralf K. aus 16348 Wandlitz (9. Februar 2024 um 12:42 Uhr)
    Die Kommunikation zwischen Leser und Autor bei der jungen Welt klappt. Der neue Artikel zum Thema Bullenreiten hat mich überrascht. Mir erschließen sich zwar noch immer nicht die Hintergründe, warum dieses amerikanische Spektakel unter der Rubrik Sport beleuchtet wird. Nach meinem Verständnis als Leser unserer linken Tageszeitung würde ich die Artikelreihe eher unter der Rubrik »Ausland« oder »Thema« platziert wissen wollen. Aber diesmal gibt es einen Sichtwechsel im Bericht, lässt uns der Autor in die Augen des Tieres schauen. Ein Foto des Tiersklaven hinter Gittern, nicht das übliche Bild des aggressiv ausschlagenden tierischen Gladiators in der Manege. Ein Hinschauen auf die Lebensqualität des Reitviehs, ein Vergleich mit dem Tier als Schlachtvieh, sogar ein Vergleich mit dem Häftlingsvieh. Ein investigativer Ansatz, der tiefgründiger beleuchtet als bislang. Denn im globalen Spiel des Kapitalismus sind sie alle Ausgebeutete des Systems, sowohl Mensch als auch Tier. Auch wenn sich hier in diesem verrohten Spiel Reiter und Zuschauer grundsätzlich für die Spieler halten.

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