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Aus: Ausgabe vom 08.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Besuch aus der Zukunft

Der ziemlich herzzerreißende Spielfilm »All of Us Strangers«
Von André Weikard
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Wieder zu Hause: Adam (Andrew Scott)

Auf der Internetseite zukunftsmail.com kann man zwei Dinge tun. Sich selbst eine E-Mail schreiben, die erst Wochen, Monate oder Jahre später versendet wird. Und die Mails anderer lesen, die solche Botschaften verschickt haben. Eltern schreiben an ihre Kinder und spekulieren, wie sie wohl aussehen werden, welche Charaktereigenschaften sich noch erhalten haben, welche Kindersorgen verflogen sein werden. Die meisten schreiben sich selbst. Sie erinnern ihr zukünftiges Ich daran, wie es einmal war – heute. Sie archivieren gute Vorsätze oder phantasieren darüber, wie ihr Leben weiter verlaufen ist. Manche glauben, sie könnten die Zukunft beschwören.

Wie wird das sein, die E-Mails zu lesen? Wie mag das sein, sich selbst oder den Eltern in der Zukunft zu begegnen? »All of Us Strangers« lässt sich auf ein solches Gedankenexperiment ein. Hauptfigur Adam (Andrew Scott) ist ein Autor in der Midlife-Crisis. Er trinkt, starrt auf den leeren Bildschirm, trinkt weiter. Schreibblockade. Dabei will Adam doch endlich über seine Kindheit schreiben. Vergilbte Fotoalben und Lautsprecher, aus denen der 80er-Jahre-Hit »The Power of Love« erklingt, sollen die Erinnerungen wach rufen. Klappt aber nicht. Und so fährt Adam in die Wohnsiedlung seiner Kindheit, fragt sich zu seinem Elternhaus durch, klingelt – und trifft dort Mutter und Vater an. Beide sind jünger als er selbst.

Die Vergangenheit, eben noch so weit weg, hat ihn gepackt. Der erwachsene Adam ist wieder mittendrin – in seiner eigenen Kindheit. Und bei allen Fragen, die er an seine Eltern hat, haben auch sie viele an ihn. Was ist aus dir geworden? Bist du verheiratet? Wo lebst du? Adam ist ein einsamer Mensch. Er lebt allein in einem anonymen Hochhausappartement mit Blick auf die Großstadt, in die er nie geht. Als der Feueralarm gellt, schlürft er als einziger hinunter auf die Straße. Das Haus scheint leer. Bis auf Harry (Paul Mescal). Die beiden Männer begegnen sich im Aufzug, trinken gemeinsam, schlafen miteinander.

Dass Adam homosexuell ist, erzählt er seiner Mutter erst beim zweiten Besuch in der Vergangenheit. Es ist vielleicht die spannendste Szene des Films. All die 80er-Jahre-Klischees ploppen auf. »Du siehst gar nicht schwul aus«, findet Mom (Claire Foy). Dass Schwule Kinder adoptieren dürfen, passt ihr nicht. »Die schreckliche Krankheit« kommt ihr in den Sinn. Und Dad (Jamie Bell) hat es immer schon gewusst. Schließlich konnte Adam mit Fußballspiel nie etwas anfangen. Den kleinen Adam hat er häufiger in seinem Zimmer weinen gehört. Angesprochen hat er ihn nie.

»All of Us Strangers« ist stellenweise quälend traurig, alptraumhaft düster. Andrew Scott spielt einen scheuen, sensiblen, zärtlichen Mann, der in der ständigen Beschäftigung mit sich selbst aber auch egomane Züge hat. Dass er immer mehr versinkt in seiner Vergangenheitsbewältigung, erstickt die aufkeimende Liebe zum bübischen, impulsiven Harry. Dem gegenüber stehen aber Momente der Fürsorge und der Versöhnung. Ein erwachsener Mann kriecht nachts in das Bett seiner Eltern und kuschelt sich an seine Mutter. Ein Mitvierziger schmückt am Weihnachtsabend den Baum seiner Kindheit.

Die Wirklichkeit spielt bei all dem keine Rolle. Ob Adam die Ereignisse psychotisch halluziniert, im Drogenrausch erlebt oder träumt, ist egal. Alles, was der Zuschauer sieht, sind letztlich Reflexionen seiner Seele, Gestalt gewordene Selbstgespräche. Andrew Haigh, Spezialist für queere Filmplots, deutet damit die Handlung der Romanvorlage von Taichi Yamada, »Sommer mit Fremden«, gehörig um. Darstellerisch und inszenatorisch ist das Ergebnis eindrucksvoll. »All of Us Strangers« kann aber wehtun. Das sollten Kinogänger wissen. In Großbritannien hat es dem Erfolg des Films keinen Abbruch getan. Das Fantasy-Drama, dort bereits angelaufen, stürmte auf Platz zwei der Kinocharts.

»All of Us Strangers«, Regie: Andrew Haigh, GB/USA 2023, 105 Min., Kinostart: heute

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