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Aus: Ausgabe vom 05.02.2024, Seite 6 / Ausland
Gazakrieg

Diskreditiertes Spiel

Keine relevanten Ansprechpartner in Israel für »Zweistaatenlösung«. Und tot ist das Konzept außerdem
Von Knut Mellenthin
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Hat wie andere Politiker Israels nicht vor, einen palästinensischen Staat zuzulassen: Netanjahu auf Stippvisite in Gaza (26.11.2023)

Im dichten Smog der wilden Gerüchte, gezielten Desinformationen, diplomatischen »Signale« ohne Wert und hanebüchenen Vorschläge zur Zukunft des Gazastreifens nach dem Krieg hat Avigdor Lieberman seine nicht ganz neuen Ideen in den Ring geworfen. Die von ihm geführte Partei Jisrael Beitenu zählt zwar, was den Umgang mit den Palästinensern angeht, zu den extrem rechten Hardlinern, ist aber strikt laizistisch und lehnt ein Regierungsbündnis mit den Orthodox-Religiösen ab.

In einem Gespräch mit der weit rechts stehenden englischsprachigen Tageszeitung Jerusalem Post, das diese am Freitag veröffentlichte, erklärte Lieberman die sogenannte Zweistaatenlösung wenig überraschend und sachlich kaum widersprechbar für tot. Er setzte sich aber auch von Vorschlägen und Forderungen aus der Regierungskoalition ab, die Enklave, die nur halb so groß ist wie der Stadtstaat Hamburg, nach Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zur Besiedlung durch Juden freizugeben oder sie alternativ zunächst mehrere Jahre lang unter israelische Militärverwaltung zu stellen und sie später zusammen mit der besetzten Westbank von einem eingesetzten palästinensischen Marionettenregime »regieren« zu lassen. Der Gazastreifen müsste, so Lieberman, nach »Umsiedlung« eines großen Teils der heutigen Bewohner auf die Sinaihalbinsel wieder unter ägyptische Herrschaft kommen, wie schon einmal von 1949 bis 1967. Die Westbank könnte sich Israel künftig entsprechend der in den Oslo-Abkommen Anfang der 1990er Jahre festgelegten drei Zonen mit Jordanien teilen. Die Zone A, in der die palästinensische Ramallah-Regierung eine beschränkte Autonomie hat, und ein kleiner Teil der Zone B sollten dem jordanischen Königreich zugeschlagen werden, die Zone C mit dem Jordantal und der Rest der Zone B sollten von Israel annektiert werden.

Realitätstüchtig sieht dieses Konzept nicht aus. Immerhin kann Lieberman sich aber auf Henry Kissinger, den früheren Außenminister der USA und Nationalen Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon, berufen, der im Dezember kurz vor seinem Tod auf der Website Politico vorgeschlagen hatte, dass Jordanien – wie schon von 1949 bis 1967 – die Kontrolle über die Westbank zurückerhalten sollte.

Für alle Fälle hat Premierminister Benjamin Netanjahu am Sonntag vormittag während der üblichen Kabinettssitzung erneut bekräftigt, dass mit ihm an eine Zweistaatenlösung, die vorgeblich von den USA und Großbritannien angestrebt wird, nicht zu denken sei. Nach einem Dank an US-Präsident Joseph Biden für die materielle und politische Unterstützung Israels bei der nachhaltigen, zeitlich immer noch unbegrenzten Verwüstung des Gazastreifens fuhr Netanjahu fort: »Das bedeutet nicht, dass wir keine Meinungsverschiedenheiten haben, aber bisher haben wir es geschafft, sie mit entschlossenen und wohlüberlegten Entscheidungen zu überwinden.« Als souveräner Staat, der für seine Existenz und Zukunft kämpfe, »treffen wir unsere Entscheidungen selbst, sogar in Fällen, wo es keine Übereinstimmung mit unseren amerikanischen Freunden gibt«.

Das würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch für jeden möglichen Nachfolger Netanjahus gelten. Keine relevante Partei Israels hat eine »Zweistaatenlösung« im Programm. Mehr noch: Auch wenn in den 1990er Jahren etwas anderes vorgetäuscht wurde, war in Wirklichkeit niemals ein regierender israelischer Politiker und nicht einmal ein bedeutender Oppositionspolitiker bereit, den Palästinensern einen Staat zuzugestehen. Das gilt, entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis, auch für den 1995 ermordeten Premierminister Jitzchak Rabin. Im übrigen ist dessen Arbeitspartei, die 1992 die Wahl mit 34,7 Prozent gewann, nach einem jahrelangen Zickzackkurs so abgewirtschaftet, dass sie – allen Umfragen zufolge – bei Neuwahlen an der Sperrklausel von 3,25 Prozent scheitern würde. Und mehr als eine Neuauflage des unehrlichen, bei den Palästinensern diskreditierten Spiels mit falschen Hoffnungen haben offenbar auch die Regierungen in Washington und London nicht auf dem Zettel.

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  • Leserbrief von Paul Vesper aus 52062 Aachen (6. Februar 2024 um 19:17 Uhr)
    Herr Kurt-Ulrich Pfannschmidt übersetzt »From the river to the sea/Palestine will be free« falsch mit »befreit«, also »freed«. Von mir darauf hingewiesen, hat er als eine wenig unbedarfte, aber ehrliche Haut seinen Fehler eingestanden. Er sei kein Philologe in englischer Sprache, meinte aber jedoch, das Ganze käme auf dasselbe hinaus. Eben nicht, lieber Kurt-Ulrich! Wer denken kann, sieht den gravierenden Unterschied. Unsere »regelbasierte« Ampel und die Christlichen werden den Unterschied bemerken, wollen ihn aber nicht wahrhaben und leugnen ihn weg. Und verbieten mit dieser Parole eine gedachte Utopie, ein laizistisches, humanistisches, sozialistisches Gesamtpalästina anstelle von religiös motivierten, rassistischen Verbrechen aufgrund abgrundtiefen Hasses auf beiden Seiten. Je länger das Massaker im Gaza andauert, wird die Frage zu stellen aktuell, ob der Staat Israel durch diese permanenten Verbrechen sein Existenzrecht verwirkt. Ich jedenfalls stelle mir die Frage.
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (5. Februar 2024 um 16:45 Uhr)
    Für eine »Zweistaatenlösung« gibt es nicht nur »keine relevanten Ansprechpartner in Israel« – die zionistischen Rassisten haben nie einen zweiten Staat gewollt und von Anbeginn der Okkupation Palästinas bis heute mit allen nur denkbaren kriminellen Mitteln eine solche Option zu verhindern gewusst. Und an dieser Haltung wird sich bei diesen Fanatikern auch künftig nicht das Geringste ändern. Niemand, der noch halbwegs klaren Verstandes ist, glaubt noch an dieses ewige hohle Gefasel. Ein Blick auf die Landkarte des durch ständig fortschreitende gewaltsame Vertreibung der seit Generationen ansässigen Bevölkerung und illegale Besiedlung zerklüfteten Palästinas genüg als Beweis: Wo soll denn dieser zweite Staat entstehen? Etwa in der Negev Wüste?
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Paul V. aus 52062 Aachen (5. Februar 2024 um 13:03 Uhr)
    In der Tat scheint mir die Zweistaatenlösung unerreichbar zu sein, zumindest, solange, wie die USA Israel nicht ernsthaft an die Kandare nimmt. Das ist absehbar nicht zu erwarten. Zuviele Vasallenstaaten hat der US-Imperialismus schon verloren: Süd-Vietnam, Iran, Südafrika, die auch mit Dollars nicht mehr zu halten waren. Im Nahen Osten droht Saudi-Arabien durch die »BRICS+«Mitgliedschaft verloren zu gehen. Heute konzentriert sich die US-Außenpolitik auf Militäroperationen: Bomben statt Dollars. Auch die hektische Reisediplomatie des US-Außenministers ändert an der Einschätzung nichts. In diesem Zusammenhang gewinnt die Losung »From the River to the Sea, Palestine will be free« große politische Bedeutung. In unserem Land ist die Losung verboten, weil sie die Zerstörung, die Auflösung, das Ende des Apartheitstaates Israel implizieren könnte. Aber der Anfang eines friedlichen, humanistischen Grundsätzen verpflichteten Staates, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt ohne rassische und religiöse Diskriminierung zusammenleben. Das müsste ein laizistischer, sozialistischer Staat sein. Wo jedoch religiöse Werte die Politik bestimmen, wird ein vermeintliches Gebot eines Jehova oder eines Allah jedem politischen Kompromiss im Wege stehen. (…) Ausschließlich laues verlogenes Beklagen der circa über 20.000 Toten ist wohlfeil und angeblich unsere Staatsräson. Das ist schlechterdings ekelhaft!
    • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (5. Februar 2024 um 17:51 Uhr)
      Betrifft: »Aber der Anfang eines friedlichen, humanistischen Grundsätzen verpflichteten Staates, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt ohne rassische und religiöse Diskriminierung zusammenleben. Das müsste ein laizistischer, sozialistischer Staat sein.« - Herr Paul V., ehe Sie weiterträumen, warten Sie mal ab, bis sich Hamas und Hisbollah (endlich!) äußern, wie denn »free Palestine« konkret aussehen soll. – Was ist zu erwarten, wenn der gemeinsame Feind Israel besiegt ist? Wird dann ein Machtkampf zwischen Hamas und Hisbollah ausbrechen? Wird Palästina am Ende in zwei Staaten zerfallen? Und was wird aus den Juden? Bisher geht es beiden Befreiungsbewegungen nur darum, den »Zionistenstaat« zu besiegen/zu zerstören/zu vernichten. Was danach kommen soll, bleibt im Nebel. Ein »laizistischer, sozialistischer Staat« wird es ganz bestimmt nicht sein. Dafür wird schon Waffenlieferant und Befehlsgeber Ayatollah Khamenei sorgen.
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (6. Februar 2024 um 11:33 Uhr)
        Herr Paul V. schreibt nicht, dass der laizistisch-sozialistische Staat durch die Hamas o. Ä. geschaffen werden soll – sondern nur, dass dieser erstrebenswert ist!
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (5. Februar 2024 um 17:49 Uhr)
      Einen Staat zu schaffen, in dem die Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und ihrer Überzeugungen gedeihlich miteinander auskommen können: Das ist durchaus auch schon unter bürgerlichen Verhältnissen möglich. Auch Religionen müssen dabei nicht zwangsläufig stören. Religionen können entzweien, sie haben aber auch das Zeug, zur Versöhnung beizutragen. Die Geschichte kennt genügend Beispiele multireligiöser Gesellschaften. Man muss den Völkern dazu nur die Gelegenheit geben. Die Forderung, erst müsse die bürgerliche Gesellschaft weg und mit ihr die Religionen, bevor in Palästina Friede einziehen könnte, scheint mir zu kurz gegriffen. So lange kann der Frieden nicht warten.
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (5. Februar 2024 um 08:16 Uhr)
    Auch in diesem Artikel wird nur die Hälfte des Gesamtproblems angesprochen. Denn selbst wenn Israel die Zweistaatenlösung anbieten würde, auf palästinensischer Seite, d. h. seitens Hamas und Hisbollah, gäbe es keine Zustimmung. – Wer die propalästinensischen Demonstrationen Ende vergangenen Jahres im Fernsehen verfolgte, dem musste aufgefallen sein, dass eine bestimmte Parole zunehmend Anhänger findet: »From the River to the Sea, Palestine will be free«. Sinngemäß heißt das nicht mehr und nicht weniger, als dass das Gebiet zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer »befreit«, d. h., anstelle des Staates Israel ein Staat Palästina errichtet werden soll. Kaum anzunehmen, es dazu Zustimmung aus Israel gäbe, selbst wenn anstelle der gegenwärtigen Regierung eine gemäßigtere an die Macht käme.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Paul V. aus 52062 Aachen (5. Februar 2024 um 13:49 Uhr)
      Hallo Herr Ullrich-Kurt Pfannschmidt, schön, mal wieder etwas von Ihnen zu lesen. Dass es mit Ihren politischen Analysen nicht weit her ist, wissen kundige Leser schon. Aber das Ganze auch mit Ihren Englisch-Kenntnissen! »Palestine will be free« heißt »Palästina wird frei sein«, nicht »Palästina wird befreit sein (Palestine will be freed)«. Verstehen Sie den Unterschied? »Nicht mehr und nicht weniger« falsch übersetzt; demzufolge falsch auch Ihre Schlussfolgerungen. Kopf hoch, bleiben Sie Ihrer Linie treu!
      • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (5. Februar 2024 um 16:41 Uhr)
        Herr Paul V., ich bin kein Sprachwissenschaftler und wahrscheinlich haben sie mit Ihrer Definition recht. Dennoch: Ich sehe letztendlich keinen praktischen Unterschied zwischen einem »freien« und einem »befreiten« Palästina. Jedenfalls aus Sicht der Befreiungs-Bewegungen Hamas und Hisbollah. Es würde auf eine »Einstaatenlösung« hinauslaufen, in der diese Organisationen das Sagen hätten. Nicht ausgeschlossen, dass viele Juden für diesen Fall ein ähnliches Schicksal befürchten, wie 1933–1945 in Deutschland.
        • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (6. Februar 2024 um 10:24 Uhr)
          Hm, warum nur haben die Islamisten von Hamas und Co. jetzt so eine Wirkmacht? Ob es wohl daran liegt, dass die (eher) säkularen Kräfte wie die PLO von Arafat usw. seit 1948 bzw. 1967 von Israel und Co. hingehalten werden? Wenn man Menschen in eine Ecke treibt und dann noch bombardiert, darf man sich nicht über die Entstehung von (sogenannten) Terroristen wundern! Der Besatzungsterror fördert die Hamas und schadet damit auch den jüdischen Bewohnern Israels!
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth, Hamburg-Altona (5. Februar 2024 um 15:23 Uhr)
        Danke, für die erheiternden Worte und die Richtigstellung von Paul V.

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