Apps gegen Überlastung
Von Gudrun GiesePflegekräfte arbeiten regelmäßig unter höchster Belastung. Viele von ihnen denken deshalb oft an die Aufgabe ihres anstrengenden Berufes. Das belegt die nun veröffentlichte »Pflegestudie 2.0«, die die Krankenkasse Barmer gemeinsam mit dem Institut für Betriebliche Gesundheitsberatung erarbeitet hat.
28 Prozent der Pflegekräfte im Alter bis 29 Jahre hätten danach 2023 wegen starken Stresses und Drucks über die Berufsaufgabe nachgedacht, zeigte die Untersuchung. Insgesamt gingen hier die Antworten von bundesweit 1.010 Beschäftigten aus ambulanten wie stationären Pflegebereichen ein. Befragt wurden diese im Zeitraum vom 1. bis 30. Juni 2023. Die Altersgruppe der 40- bis 49jährigen befasst sich vergleichsweise selten mit der Aufgabe des Pflegeberufes: Gut 18 Prozent nannten diese gedankliche Option. »Pflegekräfte arbeiten häufig an der Belastungsgrenze und auch darüber hinaus«, sagte Barmer-Vorstandschef Christoph Straub anlässlich der Präsentation der Untersuchung am Mittwoch. Umso wichtiger seien wirksame Strategien zur Bewältigung des Drucks. Dazu seien bessere Arbeitsbedingungen, aber auch Selbstfürsorge und verantwortungsvolle Führung nötig.
Grundsätzlich gab die Mehrzahl der befragten Pflegekräfte an, den Beruf als sinnhaft und wichtig, allerdings auch sehr fordernd anzusehen. Den eigenen Ansprüchen an eine gute Pflege werden im Arbeitsalltag nur 49,2 Prozent oft oder immer gerecht. 64,5 Prozent der Umfrageteilnehmer erleben es als regelmäßigen Konflikt, gleichzeitig den individuellen Bedürfnissen der Patienten sowie den vorgegebenen Abläufen auf der Station gerecht zu werden. In der Gesamtbetrachtung sei vor allem deutlich geworden, »dass die hohen beruflichen Anforderungen, Zeitmangel sowie psychische Belastungen nach wie vor zum Berufsalltag von Pflegekräften gehören und auch im Branchenvergleich stark ausgeprägt sind«, heißt es in der Studie. Als ganz besonders besorgniserregend fällt die Beantwortung der Frage aus, wie viele der Beschäftigten häufig oder sogar sehr häufig mit einer Erkrankung arbeiten: Vor der Coronapandemie lag dieser Wert bei 33,6 Prozent, 2022 bei 36,4 und im Sommer 2023 bereits bei 40,1 Prozent.
Obwohl die Studie nicht repräsentativ sei, so die Barmer, ermögliche die Größe der Stichprobe doch sehr gut, aus den Befragungsergebnissen praxisrelevante Schlüsse für den Pflegebereich zu ziehen. Aus Sicht der Krankenkasse müssten Angebote zur Gesundheitsförderung und Stressabwehr bei den Pflegekräften so früh wie möglich beginnen. Deshalb lege die Barmer einen besonderen Fokus auf Angebote für Auszubildende in der Branche. Mit einem speziellen Programm würde der Nachwuchs unterstützt, Eigenverantwortung für die Gesundheit zu übernehmen. Da die Auszubildenden eher keinen Einfluss auf den Personaleinsatz und die Arbeitsbedingungen haben, hat die Krankenkasse daneben auch die Führungskräfte als weitere wichtige Zielgruppe identifiziert. »Unsere Angebote zielen hier auf die Beratung und Sensibilisierung der Führungskräfte im Hinblick auf die Möglichkeiten einer betrieblichen Gesundheitsförderung ab und wie sie selbst als Führungskraft Gesundheitsförderung mitgestalten können«, heißt es in den abschließenden Handlungsempfehlungen.
Doch das Kernproblem, das vor allem aus erheblichem Personalmangel in der stationären wie der ambulanten Pflege besteht, wird hier nicht benannt. Eher erscheint die starke psychische Belastung der Beschäftigten als individuelles Problem, das mit Hilfe einer eigens für das betriebliche Gesundheitsmanagement konzipierten Variante der »7Mind-App« einen souveränen Umgang »mit alltäglichen und außergewöhnlichen Herausforderungen« bewältigt werden könne. Dieses Programm rücke »das Thema Achtsamkeit in den Fokus, denn eine gute Stressbewältigung spielt im Arbeitsalltag eine immer größere Rolle«. So könnten schließlich »gesunde und motivierte Mitarbeitende« die »Herausforderungen besser meistern«. Das hat dann doch sehr stark den Charakter, ein bedeutsames Problem mit einem Placebo bekämpfen zu wollen.
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Leserbrief von Dr. Klaus Mucha aus Berlin (1. Februar 2024 um 10:04 Uhr)Liebe Gudrun Giese, niemand will mit ’ner App den Personalmangel bekämpfen. Aber zum betrieblichen Gesundheitsmanagement gehört die Mitarbeitendenbefragung, um daraus zielgenaue Maßnahmen abzuleiten und diese dann umzusetzen und zu evaluieren. Und der Dreiklang aus Verändern der Arbeitsbedingungen, wozu selbstverständlich auch die Personalausstattung gehört, Eigenverantwortung und Fürsorge des Arbeitgebers ist genau richtig. Eine App kann unterstützen bei der Datenfundierung und auch als Feedback für Nutzende selbst. Arbeitsbedingungen, Personalausstattung etc. sind nur in Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Betriebsrät*innen zu erreichen. Das wissen wir doch aber alle! Dr. Klaus Mucha, Arbeitspsychologe
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