Flüchtige Normalität
Von Erik Rhea
»Der Himmel fällt uns auf den Kopf!« Diese größte Angst der Gallier in jenem widerständigen Dorf aus den Asterix-Comics stellt sich bei jedem Menschen zu jeder Zeit in immer neuer Form ein: Was wäre, wenn das, was wir gewohnt sind, nicht zuverlässig ist, unsere Normalität, in der wir uns eingerichtet haben, nur ein Sonderfall, der eine Zeit lang gutgeht, bis er sich plötzlich in Luft auflöst? Eine gruselige Vorstellung, für die die Physik einigen Treibstoff hergibt. Der Mond beispielsweise umkreist die Erde in scheinbar ewigem Zyklus. Doch könnte er eines Tages zu viel Schwung erhalten und sich einfach in die Weiten des Alls flüchten? Denkbar wäre dann auch, dass das analog mit den Planeten des Sonnensystems geschieht.
Diese Frage begann man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu stellen. Die newtonsche Gravitationstheorie war längst bekannt, sie beschreibt die gegenseitige Anziehung von Massen: Je größer die Masse eines Körpers ist, desto stärker wird seine Anziehungskraft auf andere Körper, und die Anziehungskraft nimmt in dem Maße ab, in dem die Körper sich voneinander entfernen.
Der einfachste Fall, auf den man das newtonsche Gravitationsgesetz anwenden kann, ist die gegenseitige Anziehung von genau zwei Körpern. Man bezeichnet ihn als Zweikörperproblem. Die Massen kreisen um ihren gemeinsamen Schwerpunkt, und bei einem Planeten, der um einen wesentlich schwereren Stern kreist, äußert sich das in einer ellipsenförmigen Kurve des Planeten um den Stern, der sogenannten Keplerbahn. Aus der Lösung des Zweikörperproblems lassen sich die Keplerschen Gesetze ableiten, die in der frühen Neuzeit heikel waren, da sie der damaligen päpstlichen Lehrmeinung widersprachen.
Schwieriger wird es jedoch, wenn man mittels der Gravitationstheorie anstelle von bloß zwei Körpern drei oder mehr Körper betrachtet, etwa Sonne, Erde, Mond oder gar das ganze Planetensystem. In solchen Fällen spricht man vom Dreikörperproblem, beziehungsweise, bei mehr als drei Körpern, vom N-Körper-Problem. Mit der steigenden Zahl aufeinander wirkender Massen wird es vertrackt: Ändern die Körper ihre relative Position zueinander, ändern sich auch die Anziehungskräfte, und während die Bewegung von zwei Körpern immer in einer gedachten Ebene stattfindet, wird das Problem bei drei Körpern auch noch notorisch dreidimensional. Es konnte über viele Generationen hinweg keine einheitliche Lösung gefunden werden, und die numerische Berechnung von bestimmten Einzelfällen einer Dreikörperbewegung erschien so kompliziert wie sinnlos. Heute nehmen uns Computersimulationen diese Arbeit ab, über die Sinnhaftigkeit solcher Simulationen wird jedoch weiterhin gestritten, da die Ergebnisse sehr stark von den gewählten Anfangsbedingungen abhängen und sich nicht verallgemeinern lassen.
Einen gewissen Erfolg hat man noch beim sogenannten eingeschränkten Dreikörperproblem. Nämlich dann, wenn der dritte Körper so klein ist, dass seine Anziehungskraft ignoriert werden kann, etwa ein Satellit von wenigen Kilogramm, der ins All geschossen wurde, oder ein kleiner Asteroid. Für diese Situation existieren sogar Lösungen, bei denen sich der kleine Körper relativ zu den beiden anderen Körpern gar nicht mehr bewegt, sondern in einem Punkt verharrt, die Anziehungskräfte der beiden größeren Körper heben sich an diesen sogenannten Lagrange-Punkten sozusagen gegenseitig auf, und es werden immer wieder Weltraumteleskope und andere wissenschaftliche Raumsonden in diesen Punkten plaziert, da sie dort beliebig lange ohne eigenen Antrieb verharren können.
Kaum vorhersagbar
Die Bewegung von mehr als zwei etwa gleichberechtigten Körpern blieb aber ein unlösbares mathematisches Rätsel. Also begann Henri Poincaré im Jahr 1890, die Frage nach dem N-Körper-Problem selbst umzuformulieren. Es ging nicht mehr darum, wie genau sich die Körper bewegen, vielmehr rückten qualitative Fragen in den Mittelpunkt. Man begann sich mit der sogenannten Stabilität der Lösungen zu befassen, zum Beispiel der Frage, ob die Planeten ewig um die Sonne kreisen werden oder sich eines Tages gegenseitig aus dem Sonnensystem katapultieren wie bei dem eingangs erwähnten Katastrophenszenario.
Auch wenn Anfang der 1960er Jahre durch Andrei Kolmogorow, Wladimir Arnold und Jürgen Moser gezeigt werden konnte, dass in unserem Sonnensystem die meisten möglichen Planetenbahnen stabil sind, erbrachte die poincarésche Arbeit ein nachhaltig unbehagliches Ergebnis: Viele der N-Körper-Konstellationen führen zu einem chaotischen Verhalten. Das bedeutet, dass die Bewegungen der Körper sich zwar berechnen lassen, schon kleinste Abweichungen bei den gegebenen Bedingungen aber zu qualitativ völlig anderen Ergebnissen führen. So lassen sich in der Praxis kaum Vorhersagen treffen, eine regelmäßige, periodische Bahn stellt sich nie ein. Dieses Problem können zum Beispiel Planeten in Mehrfachsternensystemen bekommen oder auch Monde von großen Gasplaneten, die in sehr weiter Entfernung um ihrem Planeten kreisen und durch zahlreiche andere Monde gravitativ beeinflusst werden.
So hat zum Beispiel eine Gruppe um den Mathematiker Ivan Hristov an der Universität Sofia das Dreikörperproblem in einem idealisierten Modell mit Hilfe eine hochleistungsfähigen Computers berechnet. Angenommen wurden drei Planeten von exakt gleicher Masse, die sich zu Beginn in Ruhe befinden. Schon für diese einfachen Bedingungen wurden 12.409 unterschiedliche Konstellationen errechnet. Die Relevanz dieser Berechnungen für die wirkliche Astronomie scheint allerdings gering, da bereits kleinste Abweichungen von den benutzten Idealwerten große Abweichungen zur Folge haben, so dass als unwahrscheinlich gilt, die Bahnen je in der Praxis beobachten zu können.
Man kann sich dazu einen Seiltänzer vorstellen, der über einem Abgrund balanciert und sein Sicherheitsnetz unvorsichtigerweise nur links von sich aufgespannt hat. Wenn er die Balance hält, bleibt er auf dem Seil, wenn er links herunterfällt, landet er in seinem Netz, wenn er jedoch auf der rechten Seite herunterfällt, landet er im Abgrund und bricht sich das Genick. Ein kleiner Windstoß kann in dieser Situation völlig unterschiedliche Auswirkungen haben, je nachdem, aus welcher Richtung er kommt. Ob der Seiltänzer am Leben bleibt, hinge von sehr geringfügigen Ursachen ab. In der Mathematik spricht man in solchen Fällen von einer Bifurkation. Ein chaotisches Verhalten weist eine unüberschaubare Menge solcher Bifurkationen auf, so dass solche »Schicksalsmomente« in hoher Frequenz auftauchen, das System gleicht einem permanenten Seiltanz. Die konkrete Bahn eines Himmelskörpers auf einer chaotischen Bahn erscheint entsprechend wirr und zufällig, auch wenn sie keineswegs zufällig ist, sondern sich streng deterministisch an das newtonsche Gravitationsgesetz hält. Das Besondere dabei: Selbst in Systemen, deren herrschende Naturgesetze wir genau kennen, entsteht eine schier überfordernde Komplexität und kein sich regelmäßig wiederholendes Verhalten. Genaue Kenntnis der Naturgesetze hilft in solchen Fällen nicht weiter.
Ständige Veränderung
Die Idee, die Welt mit einem rein quantitativen Ansatz zu beschreiben, wird dadurch sinnlos, es musste in Folge dieser Einsicht ein großes Umdenken in den exakten Wissenschaften stattfinden. Man erkannte, dass es nicht ausreicht, die Naturgesetze zu kennen, da ihre Auswirkungen ein Eigenleben entwickeln, das zu völlig neue Fragen zwingt.
Leben kann auf Himmelskörpern mit chaotischer Bahn höchstwahrscheinlich nicht entstehen, da kaum gleichbleibende Bedingungen herrschen, die Jahreszeiten treten sozusagen als eine permanent andauernde Katastrophe auf. In den meisten Fällen entstehen auf solchen Bahnen die Himmelskörper gar nicht erst, oder sie werden nach kurzer Zeit aus dem System komplett herausgeschleudert. Doch auch wenn unser Sonnensystem nur einen zentralen Stern kennt und sich die Planeten auf stabilen, periodischen Bahnen bewegen, sind wir dennoch ständig mit chaotischen Systemen konfrontiert, vor denen wir uns real in acht nehmen müssen. Das Wetter beispielsweise verhält sich chaotisch, und es ist kaum möglich, es länger als für eine Woche sinnvoll vorherzusagen. Nicht selten richten plötzliche sogenannte Extremwetterereignisse erhebliche Schäden an. Auch das statistisch gemittelte Wetter, das Klima, ist alles andere als konstant, es verhält sich ebenfalls chaotisch. Wir können also tatsächlich nicht sicher sein, dass uns nicht – mehr oder weniger metaphorisch gesprochen – plötzlich der Himmel auf den Kopf fällt.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (20. November 2023 um 21:36 Uhr)Da fällt dem Programmierer nur ein, dass es nichts Variableres gibt als eine Konstante. Und: Der Arbeitstag wird immer länger, denn der Mond bremst die Erde aus.