Kriegführendes Hauptquartier
Von Arnold Schölzel
Bisher, berichtet die FAZ am Montag, fänden NATO-Manöver »in einer Phantasiewelt statt. Künftig üben Soldaten die Verteidigung gegen einen Angriff Russlands in einem realistischen Szenario«. Aus dem militärischen Hauptquartier des Paktes im belgischen Mons kündigt Brüssel-Korrespondent Thomas Gutschker Glorreiches an: »Das größte Manöver der NATO heißt ›Steadfast Defender‹ und findet alle drei Jahre statt. Beim letzten Mal, 2021, musste es wegen der Pandemie ziemlich gestutzt werden. Beim nächsten Mal, im Frühjahr 2024, soll die Übung dagegen um so größer ausfallen: mit 40.000 Soldaten des Heeres, mehr als fünfzig Marineschiffen und mehreren Staffeln von Kampfflugzeugen.« So etwas habe es seit dem Kalten Krieg nicht mehr gegeben, und das sei nicht die einzige »Neuerung«: »Die Soldaten werden die gerade erst beschlossenen Verteidigungspläne der Allianz erproben – und zwar nach realistischen Szenarien.« Da hat sich die Mühe, diese mehrere tausend Seiten starken Detailpläne beim jüngsten NATO-Gipfel in Vilnius abzusegnen, doch gelohnt. Gelohnt hat sich auch die seit Mitte der 90er Jahre vorangetriebene NATO-Ostexpansion: Endlich wird das im großen Maßstab verwirklicht, wofür sie gedacht war.
Das Ziel war Fachleuten damals klar. Der wohl bedeutendste US-amerikanische Russland-Kenner des 20. Jahrhunderts, George F. Kennan (1904–2005), warnte am 5. Februar 1997 in der New York Times: »Die Erweiterung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Zeit nach dem Kalten Krieg.« Nicht zuletzt könne dies dazu führen, dass weitere Schritte in der atomaren Abrüstung unmöglich werden. Am Dienstag konstatierte US-Präsident Joseph Biden genau das vor der UN-Vollversammlung, schob aber Russland die Schuld zu.
In der jW-Beilage »No NATO« vom 1. April 2009 äußerte sich der letzte Planungschef der NVA, Generalmajor a. D. Hans-Werner Deim, konkreter als Kennan. Deim schrieb: »Es geht wie eh und je um die kontinentale Masse Russlands und des ganzen traditionellen Ostens sowie, immer mehr, um deren Boden-, Süßwasser- und Kohlenwasserstoffschätze. (...) Das weite Vordringen der USA und NATO in die Tiefe Eurasiens erinnert zugleich einprägsam an die Zeit der Begründung der Idee eines derartigen euroatlantischen Zusammenschlusses. Das war am Ende des 19. Jahrhunderts der Fall.« Laut Deim gehe es »um das Grundproblem und Grundübel der kapitalistischen Formation, Interessen und Zielstellungen mit brachialer Gewalt auch gegen Artgleiche durchzusetzen. Diese Erscheinung hat mehr als 75 Prozent der Kriege der neuen und neuesten Zeit ausgelöst.« Und fragte, ob »die Konkurrenz zwischen den beiden Kapitalismusmodellen«, dem »sogenannten demokratischen sowie dem von China und Russland vertretenen sogenannten autokratischen, zu Kriegen führen«. Die Eliten der USA und der NATO sagten »offensichtlich dazu ja«. Gearbeitet werde »an vorteilhaften Kampfbedingungen«. Die NATO habe »die wichtigsten Nachteile ihrer geostrategischen Lage im Vergleich zum Kalten Krieg« korrigiert, die westlichen Planer könnten mit größeren Erfolgsaussichten als die Generalstabschefs Napoleons und Hitlers zu Werke gehen. Sankt Petersburg und Moskau seien zu Grenzstädten degradiert.
Aus Mons meldet nun Gutschker: »Es ist vollbracht«. Das NATO-Hauptquartier SHAPE plane nicht nur, sondern: »SHAPE sieht sich nun als ›kriegsführendes Hauptquartier‹.«
Am Freitag alarmierte allerdings die Neue Zürcher Zeitung mit Entspannungssignalen und zählte »intensive Annäherungsversuche« zwischen China und den USA auf. Biden und Chinas Staatschef, Xi Jinping, treffen sich demnach wahrscheinlich im November. »Steadfast Defender« wird dennoch nicht abgesagt werden. Krieg im Kapitalismus muss sein.
Aus Mons meldet nun Gutschker : »Es ist vollbracht«. Das NATO-Hauptquartier SHAPE plane nicht nur, sondern: »SHAPE sieht sich nun als ›kriegsführendes Hauptquartier‹.«
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