Flucht oder Tod
Von Ina Sembdner
Die Aussichten für die 120.000 Einwohner in Bergkarabach sehen nach der militärischen Eroberung durch Aserbaidschan schlecht aus: Viele befürchten, aus ihrer Heimat vertrieben oder – wenn sie bleiben – zum Ziel von Gewalt durch aserbaidschanische Truppen zu werden. Durch die Kämpfe der vergangenen Tage wurden laut armenischen Medien mindestens 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt. »Wenn es überall Aseris gibt, hat es keinen Sinn, über die Leute zu sprechen, die hier bleiben«, erklärte etwa die Journalistin Lussine Sakarjan am Freitag deutlich resigniert gegenüber Armenpress. Es gebe keinen Strom und nahezu keine Kommunikationsmöglichkeiten in der ohnehin über Monate von Baku ausgehungerten international nicht anerkannten Republik Arzach. In Jerewan bestätigte die arzachische Regierungssprecherin Armine Hayrapetian, dass die Situation in der am heftigsten attackierten Hauptstadt Stepanakert furchtbar sei: »Aserbaidschanische Truppen sind überall rund um die Stadt«, erklärte er gegenüber AFP. Eine Behördensprecherin aus Arzach sprach davon, dass die Menschen Angst davor hätten, dass aserbaidschanische Soldaten jeden Moment »mit dem Töten beginnen könnten«
Auf internationaler Ebene war der Ton ebenfalls scharf. Bei der am Donnerstag abend einberufenen Sitzung des UN-Sicherheitsrats sprach der armenische Außenminister Ararat Mirsojan davon, dass es nicht mehr »zwei Seiten in dem Konflikt« gebe, »sondern Eindringlinge und Opfer«. Und er wiederholte den seit dem Krieg Bakus 2020 immer wieder vorgebrachten Vorwurf, dass »die Intensität und Grausamkeit« der aserbaidschanischen Offensive zeige, dass deren Ziel die »Vollendung der ethnischen Säuberung« sei. Laut Mirsojan wurden mehr als 10.000 Menschen gewaltsam vertrieben, die ohne Nahrung und andere Lebensmittel im Freien leben müssten. Er warf dem mächtigsten UN-Gremium vor, zu lange untätig geblieben zu sein, und forderte: »Die Rechte und die Sicherheit des armenischen Volkes von Bergkarabach müssen angemessen berücksichtigt und international garantiert werden.«
Den aserbaidschanischen Außenminister ließ das unbeeindruckt. Ceyhun Bayramov blieb bei seiner Version: »Was Armenien der internationalen Gemeinschaft als Angriff auf friedliche Bewohner der Region Karabach in Aserbaidschan darzustellen versucht, sind in Wirklichkeit Antiterrormaßnahmen Aserbaidschans.« Dies versuchte er mit Fotos zu untermauern und sprach von Tausenden schwer bewaffneten Einheiten Armeniens. Diese hätten Aserbaidschan »immer wieder beschossen«, und Armenien allein trage die Verantwortung.
Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan sprach in einer Kabinettssitzung am Freitag deutlich weniger aufgeregt von einer weiterhin »angespannten Situation«, es gebe aber »Hoffnung auf einige positive Entwicklungen«, zum Beispiel auf humanitäre Hilfe. Vor dem Parlament wurde unterdessen weiter sein Rücktritt gefordert. Wir »fordern von unserer Regierung, ihrem Volk zu helfen«, erklärte etwa eine Demonstrantin gegenüber AFP. Paschinjan, der sich weigerte, angesichts des reicheren und besser bewaffneten Feindes Aserbaidschan die armenische Armee zur Unterstützung der Kämpfer in Arzach zu schicken, sei ein »Verräter«. Die Anwältin Angela Adamian sprach aus, was wohl viele Armenier befürchten: »Wir haben Angst, dass dies das Ende für unsere Nation bedeutet, weil wir wissen, dass Aserbaidschan nicht hier aufhören wollen wird.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Gottfried W. aus Berlin (22. September 2023 um 20:41 Uhr)Auch bei Frau Sembder kann ich wie schon bei Frau Dagdelen nicht nachvollziehen, woher ihre Sympathie mit dem aggressiven Projekt der Armenier herrührt. Ohne je dort gewesen zu sein, klingt das alles nach einer üblen Strategie quasi faschistischer Kräfte, wenn ganze Ortschaften gehen und jetzt in einer Großstadt mit Zivilpersonen auf Häuserkampf gesetzt wird. Die Verhandlungen waren überflüssig, weil die armenische Delegation keine Autorität gegenüber ihren Leuten hat. Wer kann solche Leute gut finden?
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