Gefangener floh, gefangener Floh
Von Hagen Bonn
Als die ersten Germanen in Form von Handelsdelegationen den römischen Siedlungen (Kolonien, daher »Köln«) zuströmten, staunten sie nicht schlecht: Fenster (»fenestra«), Keller (»cella«) und die für die Lagerung und den Transport so praktischen Säcke (sacci) – so viel war ihrer Kultur fremd. Und so nützlich! Allein im Lauf der Caesar-Periode flossen aufgrund dieser begierig aufgenommenen Neuerungen mehr als fünfhundert Wörter in den germanischen Wortschatz ein. Ja, und als der Handel mehr und mehr blühte, musste man logistisch aufrüsten.
Mündliche Absprachen zwischen den Handelspartnern genügten nicht länger, also übernahm man, in Ermangelung einer eigenen, die Schrift der Römer. Die Eigenarten und Bedürfnisse der deutschen Sprache stießen aber schon früh an Grenzen. Viele Phoneme des Deutschen kann man mit der lateinischen Schrift nicht abbilden.
Dem lateinischen Alphabet fehlten fürs gesprochene Deutsch also ein paar Zeichen. Der Laut »Sch« etwa ist uns als Kombination (Trigraph) bekannt. »tz«, »ck« und »ig« (wie in »dreißig«, sprich: drai·sich) sind weitere Vertreter, die durch Kombinationen gebildet werden müssen. Leider heute nicht mehr zu erkennen: unser Rund-s (»Tageslicht« oder »das«) und das Lang-s, das ſ (»sagen«, »umsonst«). Im »ß«-Zeichen kann man es noch als linken Teil sehen. Die Bedeutung ist leider futsch, jedenfalls für all jene, die die »deutsche Schreibschrift« (Kurrent oder Sütterlin, meist falsch als »altdeutsch« bezeichnet) oder die gedruckte Frakturschrift nicht beherrschen.
Eine weitere Besonderheit der heutigen (lateinischen) Schrift sehen wir in der Überschrift, wo allein die Groß- oder Kleinschreibung des Deutschen die Bedeutung eines Wortes ausmacht. Doch lassen wir das, denn die Einübung solcher Feinheiten, und das Deutsche ist die Summe aller Feinheiten, erlernen wir über Jahre mittels der Schreibschrift. Das bedeutet, dass der Schüler den Laut gedanklich fasst und in ein Graphem »übersetzt«, das heißt in ein Schriftzeichen (Buchstabe). Dieser Prozess dauert Jahre und sichert, dass sowohl die Feinmotorik des Schreibers als auch die Entwicklung kognitiver Prozesse (Wahrnehmen, Denken, Fühlen) trainiert werden. Vorausgesetzt, die Schulen nehmen sich die Zeit. Tun sie das?
Die Lehrer beklagen seit Jahren, ihnen fehle diese Zeit. Zudem sind nicht wenige Bildungsexperten der Meinung, dass die Schreibschrift von einer Blockschrift (Druckschrift) ersetzt werden sollte. Und dann die neoliberale Variante. Die Kinder tippen gleich in die Tastatur! Wer schreibt denn heute noch mit der Hand? Omas Einkaufszettel. Kurze Notizen auf den Küchentisch gelegt. Seien wir ehrlich, brauchen wir noch Handschrift? Ja, zum Donnerwetter! Nun zu den Studien: Neben den skizzierten kognitiven und motorischen Effekten, die man nicht hoch genug einschätzen kann, sind Fähigkeiten wie Ausdauer, Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit und die gedankliche Flexibilität bei Menschen, die regelmäßig die Hand zum Schreiben nutzen, signifikant höher. Aber die Gefahr liegt nicht im Tippen oder bei der Benutzung der Umschalttaste, die den Schreibfluss beim Tippen eher behindert, aber für das Deutsche so wichtig ist, nein, die Gefahr liegt in den Schulen, die die Schreibschrift vernachlässigen oder abschaffen wollen. Dieser Kultur- und Bildungsverlust wäre entsetzlich! Er bedeutet, weniger denken, weniger verstehen und weniger fühlen. Deshalb sollte Schreibenlernen mit der Hand unbedingt wieder Schule machen. Denn es bleibt dabei: »Umfahren ist das Gegenteil von umfahren.«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf H. (26. Mai 2023 um 08:02 Uhr)Und dann die abstrusen Kuriositäten der neuen Schreibkultur: Ich verstehe, wenn etwas »in Frage« gestellt wird, aber was, bitte schön, bedeutet »infrage«?! Ebenso »aufgrund«: was ist ein Aufgrund? Ich kenne einen »Abgrund«. Oder ist dort regelmäßig »auf Grund« gemeint und warum kann man das dann nicht so schreiben?! Wir können dann mit der »mithilfe« weitermachen - entweder ist es »die Mithilfe« oder »mit Hilfe«. Ich lese schon keine Bücher mehr, obwohl ich das einmal sehr gerne gemacht habe, weil es keinen Spaß mehr macht. Und es wird nicht besser.
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