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Aus: Ausgabe vom 26.05.2023, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Unüberhörbar und rastlos

Marxist, Organisator, Experte. Zum Tod von Winfried Wolf
Von Georg Fülberth
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Winfried Wolf, geboren am 4. März 1949, gestorben am 22. Mai 2023 (Aufnahme von Januar 2023)

Am 22. Mai 2023 starb in Berlin Winfried Wolf. Er war Publizist, marxistischer Organisator, Bewegungsaktivist und der führende Verkehrsexperte der Linken. Geboren wurde er am 4. März 1949 in Horb am Neckar. Zu den akademischen Lehrern des promovierten Politologen gehörte Elmar Altvater. Sein politischer Mentor wurde Ernest Mandel. Unter dessen Einfluss ist er Mitglied und Funktionär der trotzkistischen Gruppe Internationale Marxisten (GIM) geworden. 1986 war er treibende Kraft bei einer Fusion mit der maoistischen KPD/ML zur Vereinigten Sozialistischen Partei (VSP). Diese Entscheidung beruhte unter anderem auf der Annahme, dass eine ökonomische und politische Krise bevorstehe und deshalb eine neue revolutionäre Organisation geschaffen werden müsse. Die Umbrüche von 1989 und den folgenden Jahren machten eine Neuorientierung nötig. Der letztlich revolutionäre Impetus blieb lebenslang.

Zusammen mit Jutta Ditfurth, Thomas Ebermann und Rainer Trampert war Winfried Wolf seit 1988 an der Gründung einer übergreifenden »Radikalen Linken« beteiligt, die schließlich scheiterte. Später schloss er sich der PDS an, für die er 1994 bis 2002 dem Bundestag angehörte. Die trotzkistische Vierte Internationale erschien ihm nicht länger ein geeigneter politischer Rahmen, 2004 verließ er auch die PDS. 2011 kam es anlässlich des 50. Jahrestags des 13. August 1961 zu einem Zerwürfnis mit der jungen Welt, für die er bis dahin geschrieben hatte. Typisch für ihn war, dass solche Trennungen das Weiterbestehen von persönlichen und politischen Freundschaften nicht ausschlossen.

Winfried Wolfs Gegnerschaft zum sowjetischen Sozialismustyp hatte sich vor 1989 mit der Suche nach linker Opposition im RGW-Bereich verbunden. Er veröffentlichte damals drei Bände zur polnischen Solidarnosc. Der Glaube an die Massen und das Misstrauen gegen jede Art von Bürokratie gehörte auch hier, wo er enttäuscht wurde, zu seiner politischen Grundausstattung.

Als Wissenschaftler legte er 1986 ein bis heute anerkanntes Grundlagenwerk vor: »Eisenbahn und Autowahn. Personen- und Gütertransport auf Schiene und Straße. Geschichte, Bilanz, Perspektiven«. Jahrzehntelang sammelte Winfried Wolf einen Fundus von Kenntnissen, der ihn zum unüberhörbaren Verkehrspolitiker werden ließ: im Bundestag, als Gast der öffentlich-rechtlichen Medien, mit lokalen Gutachten, in rastloser Vortragstätigkeit, mit immer neuen Büchern. Er war Sprecher der Initiative »Bürgerbahn statt Börsenbahn«, die Gründungsmitglied des Bündnisses »Bahn für alle« wurde. »Stuttgart 21« war für ihn Inbegriff dessen, was zu verhindern war: Verdrängung der Schiene aus der Fläche, Vergrabung des Rests in megalomanischen Tunneln als Zubringer für Flughäfen und Metropolen.

Winfried Wolf bekämpfte den konzernfrommen Kurs der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und unterstützte die Gewerkschaft Deutscher Lokführer, GDL. Im Kampf gegen die Privatisierung der Bahn fand er Verbündete auch unter Konservativen. GDL-Chef und CDU-Mitglied Claus Weselsky gehörte ebenso zu seinen Partnern wie die SPD-Politiker Hermann Scheer und Peter Conradi.

Zugleich fand Wolf einen zweiten Atem für ein 2008 von ihm gegründetes nachgerade erlesenes Printprojekt: Lunapark 21. Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, versehen mit einem liebevoll gestalteten Layout und mit besonderer Sorgfalt von ihm und einem qualifizierten kleinen Team redigiert.

Schon gezeichnet von der Krankheit, der er jetzt erlag, wurde er kurz vor seinem Tod noch einmal weithin sichtbar in Klaus Gietingers Film »Das trojanische Pferd – Stuttgart 21«. Dort tritt er als Kommentator der Skandale und Kämpfe um dieses Monstrum auf. Im April 2023 ist er zu einer letzten Reise aufgebrochen, um den Film zu zeigen. Im dunklen Kinosaal von Schüttelfrost gepackt, stand er auf, sobald das Licht anging, das Mikrofon in einer Hand, die andere locker in der Tasche, und sprach mit ruhiger Stimme. Zurück in Potsdam und Berlin, verstummte er für kurze Zeit und dann auf immer. Die Spuren, die er legte, werden, so ist zu hoffen, nicht verlorengehen.

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