Was hat Liebe damit zu tun?
Von Thomas Grossman
In den 60er und frühen 70er Jahren war die Ike and Tina Turner Revue neben der James Brown Show das wohl heißeste Ticket im Rhythm & Blues. Ab den 80ern wurde Tina Turner solo zu einer der populärsten Sängerinnen der jüngeren Musikgeschichte. Sie verkaufte 200 Millionen Tonträger, erhielt neun Grammys und bestritt mehrere ausverkaufte Welttourneen.
Am Mittwoch ist Tina Turner im Alter von 83 Jahren in Küsnacht (nahe Zürich) in der Schweiz gestorben. Gesundheitlich ging es ihr in den letzten Jahren bereits schlecht: 2013 hatte sie einen Schlaganfall, 2016 eine Krebsdiagnose und 2017 eine Nierentransplantation. Außerdem nahm sich ihr ältester Sohn, Craig Raymond Turner, 2018 das Leben, ihr jüngerer Sohn Ronald verstarb im Dezember 2022 an Darmkrebs. Eines gehörte – fast bis zuletzt – zu ihren wichtigsten Eigenschaften: Schmerz in Energie verwandeln.
Tina Turner wurde am 26. November 1939 als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee geboren. Aufgewachsen ist sie aber im benachbarten 300-Einwohner-Nest Nutbush, wo ihre Eltern Baumwollfarmer waren. Später sollte sie einen Hit über diesen Fleck Erde verfassen und veröffentlichen. Von den Eltern bekam sie wenig Liebe, aber »ich überlebte«, schrieb sie später. Als sie elf Jahre alt war, verließ ihre Mutter die Familie – ohne ein Wort des Abschieds. Trost fand Tina beim Singen im örtlichen Gospelchor der Baptistengemeinde, wo sie ihr Gesangstalent entdeckte. Aber es gab damals (wie heute) nur wenige Möglichkeiten für ein junges schwarzes Mädchen mit großen Träumen. Sie aber nutzte ihre: Mit 17 zog sie nach St. Louis, wo sie auf die Kings of Rhythm traf. Der gallige, charismatische Chef der Band hieß Ike Turner. Er hatte im März 1951 mit »Rocket 88« eine der ersten Rock ’n’ Roll-Nummern der Musikgeschichte aufgenommen, sagte darüber aber, der Song sei kein Rock ’n’ Roll, sondern R & B, dafür aber der wesentliche Grund, dass Rock ’n’ Roll überhaupt existiere. Turner arbeitete auch als Talentscout verschiedener Plattenlabels und half, Bluesgrößen wie Bobby Bland, Howlin’ Wolf und Little Milton zu entdecken. In ihrer 1986 erschienenen Autobiographie »I, Tina: My Life Story« schrieb Tina Turner »Ich wollte sooo sehr auf der Bühne singen. Aber das dauerte ein ganzes Jahr«. Doch eines Abends reichte man ihr das Mikro und sie begann zu singen – mit ihrer mächtigen, rauchigen Stimme. Alle waren verblüfft, vor allem Ike. Er holte sie in seine Band, aus Anna Mae wurde »Tina«. Und schließlich – nach ihrer Eheschließung – Tina Turner. Die beiden heirateten 1962 in einer billigen Kneipe in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana, zwei Jahre nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes Ronald. Tina Turner: »Ich hatte märchenhafte Vorstellungen von einer Hochzeit mit weißem Hochzeitskleid und so. Doch wir unterzeichneten nur ein Stück Papier und gingen danach in ein Bordell und sahen eine Sexshow. Ich denke nicht gerne daran zurück.«
Obwohl im Alltag eher schüchtern, war Tina auf der Bühne kraftvoll – bald wurde sie zu einer der weltbesten Performerinnen. Ike und Tina Turner wurden größer und größer. 1965 erschienen sie – auf Einladung von Phil Spector – neben Ray Charles, den Byrds, Bo Diddley u. v. a. – im Konzertfilm »The Big T.N.T. Show«. Spector produzierte auch die legendäre Single »River Deep – Mountain High«, die in den USA zwar floppte, dafür aber im Vereinigten Königreich ein Hit wurde. Ike und Tina Turner konnten daraufhin im Frühjahr 1966 im Vorprogramm bei der Englandtournee der Rolling Stones auftreten.
1971 landeten Ike und Tina Turner mit der Coverversion des Creedence-Clearwater-Revival-Songs »Proud Mary« ihren größten Hit. »Ich liebte ihre Version, sie war anders und phantastisch«, so John Fogerty von CCR. Ike Turner wusste, dass er nur mit der populären Tina im Mainstream Erfolg haben konnte, kontrollierte sie deshalb ständig. Er hatte Frauengeschichten, nahm Drogen und wurde dadurch oft gewalttätig. Doch Tina holte sich durch die Hinwendung zum Buddhismus Kraft. Im Juli 1976 kam es während der Taxifahrt zu einem Hotel in Dallas zum endgültigen Krach. Ike schlug zu, doch dieses Mal wehrte sich Tina. Dann verließ sie ihn – mit 36 Cent Bargeld und einer Kreditkarte in der Tasche. Vergeblich versuchte Ike, sie mit Drohungen zurückzuholen.
Es begann eine schwere Zeit in Tina Turners Karriere. Zunächst lebte sie von Essensmarken und putzte Wohnungen, nutzte aber jede Gelegenheit aufzutreten. Sie mochte keinen R & B mehr singen, sondern Rock. Ihre neue musikalische Heimat hieß Europa. Dort wurde sie mehr als in den USA als Star behandelt. 1984 erschien dann ihr Hit »What’s Love Got to Do with It« (eine Nummer 1 in den USA) sowie ihr Album »Privat Dancer«. Es verkaufte sich 20millionenmal und wurde von Kritikern als Meilenstein gefeiert. Auch die Alben »Break Every Rule« (1986) und »Foreign Affair« (1989) waren von Erfolg gekrönt. 1988 trat sie in Rio de Janeiro vor 180.000 Menschen auf, ein Rekord. Und ihre »Twenty Four Seven«-Tour im Jahre 2000 brachte 100 Millionen Dollar an Ticketverkäufen ein, ebenfalls ein Rekord für einen Solostar. Erst 2009 beendete sie ihre Bühnenkarriere.
1993 erschien das Biopic »What’s Love Got to Do with It« mit Angela Bassett als Tina Turner. Privat lebte Tina Turner seit 1994 mit dem deutschen Musikproduzenten Erwin Bach – seit 2013 auch ihr Ehemann – in der Schweiz und wurde 2013 auch Schweizer Staatsbürgerin. 2018 wurde Tina Turners Lebensgeschichte auch als Musical »Tina« in London auf die Bühne gebracht. Der Tina-Darstellerin Adrienne Warren gab sie mit auf den Weg: »Spiele nicht das Sexpüppchen, spiele die starke Frau!«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christa K. (25. Mai 2023 um 23:13 Uhr)Ich hab seit mehr als 20 Jahren - aus meiner privaten Entwicklung heraus - kaum mehr etwas von Tina Turners Karriere oder ihrem Leben mitverfolgt. Doch dieser Artikel hier in der jW hat mich sehr betroffen gemacht, danke dafür. Um es mit den Worten Tina Turners auszudrücken: »People think my life has been tough, but I think it has been a wonderfull journey. The older you get, the more you realize it’s not what happens, but how you deal with it.« Das ist für mich menschliche Entwicklung und Größe, die nicht leicht zu erreichen ist. Möge ihr die Erde leicht sein …
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