Kiew: Offensive begonnen
Von Reinhard Lauterbach
Die Ukraine hat nach den Worten von Präsidentenberater Michajlo Podoljak ihre angekündigte Gegenoffensive vor einigen Tagen begonnen. Sie finde auf der gesamten Frontbreite von 1.500 Kilometern statt, sagte Podoljak dem italienischen Fernsehsender RAI am Donnerstag. Die ukrainische Regierung werde dabei die vom Westen gelieferten Waffen auf all jenen Territorien einsetzen, auf die sie Ansprüche erhebe.
Die Aussage Podoljaks widerspricht dem, was Militärspezialisten seit langem sagen – dass eine solche Offensive nur bei Konzentration auf ausgewählte Frontabschnitte erfolgversprechend sei. Interessant ist sie aber unter zwei anderen Aspekten: Erstens bezieht Podoljak damit das kürzliche Eindringen »russischer Partisanen« ins Gebiet Belgorod in die ukrainischen Offensivhandlungen mit ein – zuvor hatte Kiew noch bestritten, etwas mit der Aktion zu tun zu haben. Und zweitens droht er damit weitere Angriffe auf Ziele in Russland selbst an. Denn die Ukraine erhebt inoffiziell Ansprüche etwa auf die Kuban-Region auf dem Festland östlich der Krim oder auf Teile der Region Krasnodar.
Ohne unmittelbare Verbindung hierzu entwickelte der frühere US-Kommandeur für Europa, General Philip Breedlove, einen Plan für die Rückeroberung der Krim durch die Ukraine. Der polnischen Gazeta Wyborcza vom Donnerstag sagte er, es reiche, wenn die ukrainischen Truppen die Süßwasserversorgung der Krim wieder unterbrächen und die neue Brücke über die Meerenge von Kertsch zum Einsturz brächten. Danach wäre die Schwarzmeerhalbinsel für Russland unhaltbar, und die Ukraine könne den Zusammenbruch der russischen Herrschaft dort abwarten. Breedlove erklärte auch, die ukrainische Armee brauche gar keine unmittelbare Beratung durch die US-Armee. Ihre Kommandeure hätten die Lektionen der jahrelangen Schulungen durch NATO-Militärs so gut gelernt, dass sie in der operativen Planung nicht schlechter seien als die der USA selbst.
Parallel dazu musste die Regierung in Kiew sich aber eingestehen, dass der Krieg im eigenen Land in wachsendem Maße unbeliebt ist und immer mehr Männer offenbar versuchen, sich der Einberufung durch die Flucht ins benachbarte Ausland zu entziehen. Am Mittwoch sagte Innenminister Igor Klimenko, deshalb sollten die Grenzen der Ukraine zu ihren westlichen Nachbarländern so gesichert werden, dass sie nicht mehr außerhalb offizieller Kontrollstellen überquert werden könnten. Dies soll nach Klimenkos Worten mit Hilfe von Infrarotkameras und Bewegungsmeldern entlang der gesamten Grenze sowie »mit Unterstützung unserer westlichen Partner« geschehen. Nicht ausgeschlossen ist daher, dass zum Beispiel die genannten technischen Geräte auf polnischem oder rumänischem Gebiet installiert werden und sich Kiew die Arbeit der Grenzsicherung von den Regierungen der Nachbarländer abnehmen lässt. Dass zunehmend mehr Betroffene dem Kriegsdienst entkommen wollen, geht auch daraus hervor, dass das Schmieren für falsche Untauglichkeitsbescheinigungen deutlich teurer geworden ist. In ukrainischen Medien werden inzwischen Summen von bis zu 12.000 US-Dollar für eine solche Bescheinigung genannt; zu Beginn der russischen Invasion kosteten sie noch ein Drittel davon.
In Russland haben die Behörden derweil den »Terrorbekämpfungszustand« für das Gebiet Belgorod wieder aufgehoben. Ein Militärsprecher sagte am Mittwoch, Militär und Nationalgarde sei es gelungen, die etwa 80 Eindringlinge einzukesseln und zum größten Teil zu töten. Verteidigungsminister Sergej Schoigu äußerte sich drei Tage nach den Angriffen auf russisches Staatsgebiet erstmals und kündigte an, bei künftigen solchen Versuchen würden die Streitkräfte »mit äußerster Härte« reagieren.
Von der Front um Bachmut meldete Russland eigene Angriffe an den Flanken der Stadt, während der Chef der Söldnertruppe »Wagner«, Jewgeni Prigoschin, ankündigte, er werde seine Einheiten ab dem 1. Juni aus der Stadt abziehen. Die »Wagner«-Truppe hat nach US-Einschätzungen bei den monatelangen Angriffen bis zu 40.000 Mann verloren.
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Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (26. Mai 2023 um 14:21 Uhr)Die jW wäre besser beraten gewesen, hätte sie hinter die Überschrift ein dickes Fragezeichen gesetzt. Wenn Selenski-Berater Podoljak von Kampfhandlungen »entlang einer Grenze von 1.500 Killometern» spricht, sagt er damit im Grunde, dass es (bisher) gar keine Großoffensive gibt. Ein großer Durch- und Umbruch sieht anders aus! Er wäre wohl auf einen oder höchstens zwei Punkte konzentriert. Nach einem Interview des Büroleiters von Selenski, Igor Schowkwa, mit Bloomberg, auf das sich URA.ru am 25. Mai bezieht, wird Kiew »den Gegenangriff erst dann beginnen, wenn die Ukraine die erforderliche Menge an Waffen aus den westlichen Ländern erhalten hat«. Es wäre für die ukrainische Führung insgesamt besser, (erneut, nach 14monatiger Unterbrechung aufgrund westlicher Einmischung und Scharfmacherei) über Russlands Bedingungen zu verhandeln. Aber das wollen Biden, Sunak, Scholz, Macron usw. nicht zulassen. »Keine Zugeständnisse!« Denn das Prestige der »größten Militärmacht aller Zeiten« steht auf dem Spiel. Dafür sterben täglich Soldaten und immer wieder auch Zivilisten.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (26. Mai 2023 um 15:54 Uhr)Ich hätte nichts dagegen, würde die »Große Offensive« weiter so verlaufen wie bisher. Große Schlachten sind - das Wort allein sagt darüber genug - ein großes Schlachten. Am besten wäre also, man schickte die Soldaten gänzlich nach Hause. Die Ukraine und Russland sind geschunden genug. Und wir sind es auch!
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (26. Mai 2023 um 12:30 Uhr)Seit langer Zeit zwar läuft ein einseitiges Ukraine-Narrative in den Medien, wogegen bis jetzt kein Kraut gewachsen ist, jedoch ein dementsprechender militärischer Erfolg der Ukraine blieb bisher trotzdem aus, und der ist kaum zu erwarten. Mit der Teilmobilisierung hat Russland die gegenüberstehenden Soldaten zuerst ausgeglichen und später sogar durch seine aufreibende Militärtaktik durch die Verluste bei Bachmut zu seinem Vorteil entscheiden können. Sowieso hatte Russland bei der Feuerkraft und bei der Luftwaffe militärische Überlegenheit gehabt. Zwar kann das UK-Militär noch jede Menge Kriegsschaden in den besetzten Gebieten verursachen, jedoch fast auszuschließen ist, dass sie allein jemals in die Lage versetzt werden, diese Gebiete zurückzuerobern. Die von der EU ausgehaltene Marionettenregierung weiß es ganz genau und darum bemüht sie sich schon lange mit verschiedenen Tricks die NATO in den Krieg einzubeziehen. Ähnliche Taktik verfolgt die NATO. Sie tasten Schritt für Schritt, wie weit sie gehen dürfen. Und hier liegt der Hund begraben! In diesem Krieg gibt es keinen Sieger, nur Verlierer und je weiter er geführt wird, desto mehr werden wir alle verlieren. Es geht jetzt darum: Den Krieg zu beenden, ehe wir alles verlieren!
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