Die Unerwünschte
Von Daniel Bratanovic
Die Sache war ihnen lästig. Schon während sie sich zutrug, erst recht danach. Dass in Deutschland Revolution gewesen war – obgleich eine »gescheiterte« –, ist von den damals aktiven bürgerlichen Liberalen, wenn überhaupt, nur widerwillig anerkannt, von ihren geistigen und politischen Nachkommen bis weit in die Bundesrepublik hinein entweder geringgeschätzt oder aber selektiv gewürdigt worden. Die deutsche Revolution von 1848/49 war den Vertretern des bürgerlichen Liberalismus ein Ärgernis, die offiziellen Repräsentanten des westdeutschen Staates fremdelten die längste Zeit mit ihr.
Abwehr
Waren die bald etablierten gemäßigt liberalen Märzministerien und die parlamentarischen Versammlungen in den deutschen Einzelstaaten im Frühjahr 1848 unzweifelhaft das unmittelbare Ergebnis der revolutionären Erhebungen von Bürgern, Handwerkern, Studenten und Arbeitern und damit der Versuch der alten halbfeudal-bürokratischen Regime, per Konzessionen nicht alle Macht aus den Händen zu geben, wurde ihr revolutionärer Charakter von seiten der Bourgeoisie sogleich wieder in Abrede gestellt. In der verfassunggebenden Versammlung in Preußen hatten bald nach ihrem Zusammentritt Ende Mai 1848 mehrere Abgeordnete in Reden und Anträgen verlangt, das Parlament möge sich zu der Revolution bekennen, aus der es hervorgegangen war. Der demokratische Deputierte Julius Berends forderte die in Berlin tagende preußische Nationalversammlung am 8. Juni dazu auf, »in Anerkennung der Revolution zu Protokoll zu erklären, dass die Kämpfer des 18. und 19. März sich wohl ums Vaterland verdient gemacht hätten«. Das brachte Ludolf Camphausen, rheinländischer Bankier und erster bürgerlicher Ministerpräsident in Preußen, der streng auf das Prinzip der Vereinbarung mit der Hohenzollernkrone und dem preußischen Staatsapparat geeicht war, in Verlegenheit. Er bestritt rundweg den revolutionären Ursprung seiner Regierung und beharrte darauf, dass die neue staatsrechtliche Situation aus Kontinuität erwachsen sei, der neue »Rechtsboden« für Preußen seinen Ursprung in den königlichen »Patenten« vom 18. März habe und nicht in den Berliner Barrikadenkämpfen, die diese Zugeständnisse überhaupt erst erzwungen hatten. Der Begriff der Revolution sollte von Anfang an eliminiert werden.
50 Jahre nach jenen Märzereignissen, die nicht revolutionär gewesen sein sollen, nannte Rudolf von Bennigsen, Fraktionsführer der großbürgerlichen Nationalliberalen Partei, in einer Debatte des Reichstags der inzwischen unter preußischer Vorherrschaft geeinten deutschen Nation am 18. März 1898, provoziert vom sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel, die Vorkommnisse eine »peinliche Episode« einer »verführten Berliner Bevölkerung«. Am 18. März 1848 habe »ja leider das Königtum eine schwere Niederlage erlitten«, und für »die Umgestaltung Deutschlands aus seiner Zerrissenheit zu einer einheitlichen Macht« sei dieser Tag »verhängnisvoll und störend« gewesen. Nicht an die Berliner Straßenkämpfe sei zu erinnern, sondern an das Frankfurter Parlament, »zusammengesetzt aus den besten Kräften der ganzen Nation«, dessen Ziele indessen erst Kaiser Wilhelm, der einstige »Kartätschenprinz«, verwirklicht habe, jener »Fürst«, der »in der Geschichte eine Gestalt bildet für alle Zukunft, wie sie an Glorienschein und Ehrfurcht gebietender Persönlichkeit seit Karl dem Großen kein Herrscher in Deutschland eingenommen hat« (das Protokoll notiert: »stürmischer Beifall«). Kurzum, das mit »Blut und Eisen« seiner Soldaten zusammengezimmerte obrigkeitsstaatliche Preußendeutschland war dem liberalen Bennigsen teurer als ein parlamentarischer Nationalstaat auf den Grundlagen der Volkssouveränität, 1871 alles, 1848 nichts.
Eine Abneigung gegen die Revolution machte auch ein späterer exponierter Vertreter des deutschen Liberalismus deutlich, als er 1948, zum 100. Jahrestag, das Wirken der Paulskirchenversammlung explizit lobte, dabei aber die Existenz einer revolutionären außerparlamentarischen Bewegung schlichtweg ausblendete. Der nachmalige Bundespräsident Theodor Heuss lehnte die radikale Bewegung ab, sie tat, wie er befand, »der demokratischen Sache (…) eher Abbruch«.¹
Der Widerspruch will geklärt sein: Eine versuchte Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, die eine bestimmte gesellschaftliche Klasse, damals ökonomisch längst schon auf dem Sprung, aber politisch weitgehend einflusslos, hätte ans Ruder bringen und die hemmenden Mächte des Alten auf den verdienten historischen Platz verweisen sollen, um die gemäßen juristischen Verkehrsformen zu fixieren, soll von genau dieser Klasse, dem kapitalistisch agierenden Bürgertum, nicht gewollt, nicht gewünscht sein? Eine im Kern bürgerliche Revolution wird von bürgerlicher Seite schon während ihres Verlaufs mit Misstrauen betrachtet, abgebremst, hintertrieben und in der Rückschau von Vertretern eben dieses Bürgertums 50 oder 100 Jahre danach mit Geringschätzung bedacht, verachtet und verleugnet? Warum?
Märztage
Sehr bald nach den Maßstab und Vorbild gebenden Erschütterungen der französischen Februarrevolution links des Rheins erhoben sich Ende Februar, Anfang März 1848 überall in Deutschland Volkskundgebungen und Demonstrationen. Und überall lauteten die Forderungen ähnlich: liberale Ministerien, Amnestie für politische Vergehen, Aufhebung der Feudallasten, Presse-, Versammlungs- und Gewissensfreiheit. Die revolutionäre Welle erfasste zunächst die kleineren und mittleren deutschen Partikularstaaten, nahm ihren Ausgang im Großherzogtum Baden und griff kurze Zeit später auf das Königreich Württemberg, die hessischen Staaten (Großherzogtum Hessen, Kurfürstentum Hessen, Herzogtum Nassau), das Königreich Bayern und das Königreich Sachsen über. Allerorten konnte sich die Volksbewegung rasch und ohne größere Mühe behaupten und bürgerlich-demokratische Freiheiten sowie die Bildung liberaler Regierungen durchsetzen – die vorläufigen Siege waren fast durchweg ohne Barrikadenkämpfe erfochten worden. Das war möglich, weil eine einheitliche Oppositionsfront bestand: Bürgerliche Liberale und kleinbürgerliche Demokraten agierten gemeinsam, die Bourgeoisie hatte sich mit den Volksbewegungen verbunden und an deren Spitze gestellt.
Alle scheinbare Mühelosigkeit wies aber von Anfang an eine schwere Hypothek auf. Aufgrund der feudalstaatlichen Zersplitterung entwickelte sich die Revolution in Deutschland als eine Bewegung zwar aufeinander bezogener, sich wechselseitig beeinflussender, aber doch isolierter, nach- und nebeneinander vorgehender lokaler Erhebungen. Sie hatte, anders als Frankreich mit seiner Hauptstadt, kein politisches Zentrum, und ihr weiteres Schicksal hing entscheidend davon ab, welchen Verlauf sie in den beiden mächtigsten und politisch rückständigen deutschen Einzelstaaten Preußen und Österreich nehmen würde. Für beide Staaten, Unterdrücker unterschiedlicher Nationalitäten, kam hinzu, dass die Revolution nicht bloß Angelegenheiten der »deutschen Nation« zu regeln hatte.
Ganz ähnlich wie in den deutschen Partikularstaaten regte sich die Opposition gegen das alte Regime in der Wiener Hofburg Anfang März zunächst mit einer Petitions- und Adresskampagne, die neben den bekannten Forderungen auch jene enthielt, eine gesamtstaatliche Ständeversammlung einzuberufen, die, wie von führenden Wiener Liberalen in einer Adresse vorgetragen, auch mit dem Steuerbewilligungs- und Gesetzgebungsrecht ausgestattet werden sollte. Radikaler noch trat die Studentenbewegung auf, die sich in einem von 2.000 Kommilitonen unterzeichneten Beschluss von der Ständeidee verabschiedete und eine Volksvertretung verlangte. Doch die österreichische Regierung, angeführt vom Staatskanzler Metternich, war nicht willens, Zugeständnisse zu machen. Als am 13. März Massen vor dem Ständehaus zusammenkamen, wohlhabende Bürger, Studenten und auch Arbeiter, ließ das Militär Straßen und Plätze besetzen und provozierte den bewaffneten Straßenkampf. In den Wiener Vorstädten erhoben sich die Arbeiter, setzten Akzise- und Kaufhäuser in Brand und stürmten Fabriken, zahlreiche Abordnungen bedrängten die Hofburg und forderten den Rückzug der Truppen, eine Bewaffnung der Studenten und den Rücktritt des Staatskanzlers. In dieser Lage zwang die zu Konzessionen bereite höfische Opposition den alten Metternich zur Demission; der bestgehasste Mann Europas, nach dem das europäische System der Reaktion benannt war, der Repräsentant einer ganzen Epoche, war Geschichte. Aber so erfolgreich die Erhebung auch verlief, die österreichische Bourgeoisie war im Unterschied zu den anderen deutschen Staaten noch nicht an der politischen Macht beteiligt.
Anders als in Österreich nahm die Volksbewegung in Preußen ihren Anfang nicht in der Hauptstadt, sondern in der Provinz, im ökonomisch weit fortgeschrittenen Rheinland, namentlich in Köln, wo der Bund der Kommunisten mit einem entschieden demokratischen Programm auftrat, dessen Umsetzung Arbeiter auf einer Kundgebung von 5.000 Menschen am 3. März verlangten und auf der Sitzung des Kölner Gemeinderats vortrugen. Die rheinländische Bourgeoisie geriet in Bewegung, um, wie die liberale Kölnische Zeitung schrieb, jedem weiteren »tumultarischen Fordern und Petitionieren zuvorzukommen«, und initiierte eine breite, an die Berliner Regierung gerichtete Adresskampagne mit ihren Reformwünschen.
In der Hauptstadt selbst radikalisierte sich seit dem 6. März Tag für Tag die Opposition gegen die preußische Krone und erhielt immer größeren Zulauf. Statt Reformen zuzugestehen, setzte die Kamarilla um den Prinzen Wilhelm von Preußen auf die militärische Konfrontation. Zwischen dem 13. März und dem 16. März schoss das Militär immer wieder in Versammlungen, etliche Tote und Verletzte blieben zurück. Die Nachricht über Metternichs Sturz in Wien und die Einsicht, dass jegliche Verweigerung von Zugeständnissen den Bestand des Staates gefährdete, sorgte dafür, dass sich der reformbereite Flügel an der Staatsspitze durchsetzen konnte. In der Nacht vom 17. auf den 18. März ließ König Friedrich Wilhelm IV. zwei Erlasse (Patente) ausarbeiten, mit denen die Zensur aufgehoben, der Vereinigte Landtag einberufen und – vage – eine Verfassung für Preußen angekündigt wurde. Für den 18. März hatte sich indessen zur Übergabe einer Adresse an den König eine Massendemonstration vor dem Schloss angekündigt. So wurden die königlichen Verordnungen vor einer riesigen Menschenmenge verkündet. Jubel und Freude über diese Nachricht verflogen jäh, als plötzlich Soldaten vom Schlosshof her gegen die Demonstranten vorrückten. Schüsse fielen, der Kampf brach aus. In der ganzen Innenstadt errichteten Bürger, Studenten, Handwerker und Arbeiter binnen kürzester Zeit Barrikaden und requirierten Waffen. Die Straßenschlachten dauerten bis zum Morgen des folgenden Tages. Wo das Militär Barrikaden nehmen konnte, entstanden sogleich neue. Obwohl zahlenmäßig weit unterlegen, konnten die Aufständischen militärisch nicht besiegt werden. Die Truppen, deren Kampfmoral rasch gesunken war, reichten nicht aus, die ganze Stadt zu besetzen, weitere Reserven konnten aus Furcht vor Erhebungen in anderen Landesteilen nicht nach Berlin beordert werden. Der Berliner Militärgouverneur Karl von Prittwitz sah für seine Soldaten keine Erfolgschancen, die Aufständischen hatten gesiegt. Der König beugte sich der Forderung nach Rückzug der Truppen und war – eine Demütigung für eine Majestät – gezwungen, sich vor den in den Schlosshof getragenen Gefallenen der Revolution zu verneigen. Sein Bruder Wilhelm, der »Kartätschenprinz«, floh nach England, das alte Ministerium wurde entlassen, und im neuen gaben mit Camphausen als Ministerpräsident und David Hansemann als Finanzminister Vertreter der Großbourgeoisie den Ton an.
Deutsches 1789
Der hier knapp geschilderte Hergang der Märzereignisse in ganz Deutschland, aber insbesondere in Österreich und in Preußen, zeigt unmissverständlich an, dass die Zurückdrängung der alten, halbfeudalen Gewalten, die Eroberung bürgerlich-demokratischer Freiheiten und eine Teilhabe an der Macht auf revolutionärem Wege erfolgt war. Ohne den Druck und die Kämpfe der Straße, ohne das spontane Bündnis, das die Bourgeoisie mit dem demokratischen Kleinbürgertum und auch bereits den Arbeitern eingegangen war, hätte es diese Errungenschaften nicht gegeben. Gleichwohl lässt sich das, was sich da in den deutschen Staaten zutrug, nicht umstandslos mit anderen Revolutionen vergleichen. Die Spezifika der deutschen Revolution liegen im Zeitpunkt der Umwälzung und im Zustand des Landes begründet.
Der Hinweis auf das Fehlen eines politischen Zentrums, wie es Paris schon damals war, und der, dass in Deutschland erst erkämpft werden sollte, was in Frankreich soeben gestürzt worden war – die konstitutionelle Monarchie –, verweisen oberflächlich auf die dahinterstehenden, mehrfach miteinander verschränkten Widersprüche, vor denen eine Änderung der Verhältnisse stand. Auch wenn die Aussage, die deutsche Revolution habe vor einer Doppelaufgabe gestanden, ein wenig nach Determinismus und »Geschichtsfahrplan« riecht, kann schwerlich bestritten werden, dass die endgültige, rechtlich fixierte Etablierung bürgerlicher respektive kapitalistischer Verkehrsformen gegen die erheblichen Reste der Feudalordnung zugleich mit der Schaffung eines einheitlichen konstitutionellen Nationalstaates einhergehen musste. Diese widrigen Ausgangsbedingungen ergaben sich indessen zu einer Zeit, als der kapitalistische »Take-off« auch in Deutschland schon erfolgt war. Die bürgerliche Revolution stand mithin nicht am Anfang der bürgerlichen Umwälzungen, sondern mittendrin. 1848 war das deutsche 1789 und war es nicht.
Daher irrt der proborussische Geschichtsideologe Heinrich von Sybel, damals selbst bürgerlich-liberales Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, wenn er 40 Jahre später in seiner im übrigen durch und durch antiplebejischen Rückschau auf die Ereignisse, an einer Untersuchung der sozialen Unterschiede desinteressiert, das Bürgertum als allgemeinen Stand auftreten lässt.² Es gab, anders als im Frankreich des Jahres 1789, im Deutschland des Jahres 1848 keinen »dritten Stand« mehr, keine allgemeine Zusammenfassung der Gesellschaft jenseits von Adel und Klerus, sehr wohl aber bereits ein, wenn auch unentwickeltes, modernes Proletariat. Der Weberaufstand in Schlesien hatte sich vier Jahre vor der Revolution von 1848 ereignet und das »Manifest der Kommunistischen Partei« war wenige Wochen vor deren Ausbruch erschienen.
Umgekehrt hatte die Bourgeoisie längst ein distinktes Klasseninteresse entwickelt und auch schon einige Klassenpositionen erobert. Den seit 1815 immer lauter vorgetragenen Forderungen der Kaufleute und Fabrikanten nach Beseitigung der innerdeutschen Zollschranken hatte die Gründung des Deutschen Zollvereins von 1834 Genüge getan. Da der Zollverein Preußens Machtstellung gegenüber den angeschlossenen Kleinstaaten weiter stärkte, »gewöhnten sich die angehenden Bourgeois dieser Staaten, nach Preußen zu blicken als ihrer ökonomischen und dereinst auch politischen Vormacht« (Friedrich Engels). Solche von vornherein gegebene Abhängigkeit vom preußischen Staat, das Paktieren mit der halbfeudalen Bürokratie, eröffnete von Anfang an die Möglichkeit, die eigenen ökonomischen Interessen in friedlicher Vereinbarung mit der Hohenzollernmonarchie durchzusetzen. Somit bestand für die preußische Bourgeoisie keine Not, die Machtfrage in revolutionärer Weise zu lösen.
Rücklauf
Diese Haltung zeigte sich alsbald nach den erfolgreichen Erhebungen der Märztage. Die Hauptforderungen der Bourgeoisie aus der Vormärzzeit waren erfüllt, ihre maßgeblichen Interessen befriedigt. Der eben erst entstandene Interessenblock gegen die alten Gewalten zerbrach, noch ehe er richtig Gestalt angenommen hatte. Dabei war die Adelsmacht alles andere als endgültig beseitigt, von einer umfassenden Bourgeoisieherrschaft konnte keine Rede sein, solange der alte Staatsapparat fortbestand und weiterhin über die Armee gebot. Auch die ökonomischen Grundlagen der Aristokratie waren unberührt geblieben, denn auch wenn einzelne Verzichtserklärungen für bisherige Feudalverpflichtungen abgegeben worden waren, stand eine Aufhebung des Großgrundbesitzes nicht zur Disposition. Eine konsequente Fortführung der Revolution wollten die bürgerlichen Liberalen, denen friedliche Vereinbarungen mit der Krone ohnehin lieber gewesen wären, aber unbedingt verhindern. Bedroht sahen sie sich trotz ihrer prekären Machtstellung weniger vom Adel als vielmehr von den radikalen Aktivitäten der Kleinbürger und Arbeiter.
Wenngleich es nicht so aussah und für die damals unmittelbar Beteiligten nicht zu erkennen war, begann der Rücklauf der Revolution im Grunde schon bald nach den erfolgreichen Erhebungen vom März. Im April scheiterten in Baden kleinbürgerliche Demokraten bei dem Versuch, auf dem Wege des bewaffneten Aufstands die Republik zu erkämpfen. Derweil konstituierten sich in den verschiedenen Ländern erste parlamentarische Versammlungen und auch die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche, in denen die bürgerlichen Liberalen eine jeweilige Mehrheit auf sich vereinen konnten, die genau darauf achteten, den weiteren Verlauf in gemäßigten Bahnen zu halten, und von Anfang an auf das Prinzip der Vereinbarung mit den alten Gewalten setzten. Die Differenzierung im antifeudalen Lager, die sich in der Zusammensetzung der Parlamente zeigte, und auch die rasch auftretenden nationalen Gegensätze in Preußen (Polen) und in Österreich (Tschechen und Italiener), bei denen sich das deutsche Bürgertum aus eigenem Profitstreben auf einen »nationalen Egoismus« besann, gaben der Konterrevolution bald Oberwasser.
Die entscheidende Wende in Richtung Konterrevolution in ganz Europa brachte die Niederlage der Pariser Arbeiter im Juni 1848. Der gescheiterte Aufstand, diese erste offene Klassenschlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie, ließ die Liberalen in Deutschland noch näher an Krone und Adel rücken und stärkte die Reaktion. In der preußischen konstituierenden Versammlung nannte der Liberale Eduard Baumstark die Niederwerfung der Pariser Arbeiter »eines der glücklichsten Ereignisse« in ganz Europa. Im Hochsommer ging die adlige Konterrevolution in die Offensive. Im September kam es in Preußen zum offenen Bruch zwischen bürgerlicher Versammlung auf der einen und Regierung und Krone auf der anderen Seite. König und junkerliche Kamarilla wollten sich endgültig der seit März bestehenden »bürgerlichen Vormundschaft« entledigen. Gleichsam das Gegenstück zur Pariser Juniinsurrektion, schlug in Österreich die kaiserliche Armee im Oktober den Aufstand der Wiener Kleinbürger und Arbeiter nieder. Im November erfolgte der konterrevolutionäre Staatsstreich in Preußen. Berlin wurde militärisch eingekreist. General Wrangel marschierte mit seinen Truppen am 10. November in die Hauptstadt ein, verhängte den Belagerungszustand und ließ fünf Tage später die konstituierende Versammlung auseinanderjagen. Widerstandsversuche blieben zersplittert und wurden einzeln zerschlagen.
Zu Beginn des Jahres 1849 war die Revolution zwar noch nicht vollständig niedergerungen, doch das liberale Bürgertum hatte mehr oder weniger offen die Seiten gewechselt oder wollte zumindest von einem erneuten Zusammengehen mit der Volksbewegung nichts wissen. Die kleinbürgerlichen Demokraten, Arbeiter und Bauern, schlecht oder gar nicht organisiert, waren auf sich allein gestellt. Die letzten Kämpfe entzündeten sich in der Auseinandersetzung um das Zustandekommen und die Verwirklichung einer deutschen Reichsverfassung, wie sie in der Frankfurter Nationalversammlung diskutiert wurde. Am 27. März verabschiedeten die Paulskirchenabgeordneten mit einer knappen Mehrheit die erste bürgerliche Reichsverfassung, am nächsten Tag wählten sie Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser eines nicht existenten »kleindeutschen« (ohne Österreich) Bundesstaates. Der König, der ein solcher Kaiser nicht sein wollte, befand, die ihm angetragene Krone, »einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Letten gebacken«, werde er nicht tragen.
Preußen fühlte sich entschlossen, die deutsche Revolution mit militärischer Gewalt niederzuwerfen und so auf eigene Weise seinen Führungsanspruch gegenüber den anderen deutschen Fürsten und Regierungen durchzusetzen. Die militärische Kampagne der Arbeiterklasse und des städtischen Kleinbürgertums zur Verteidigung der Reichsverfassung blieb hingegen ohne zentrale Führung. Die ersten bewaffneten Kämpfe begannen in Dresden und im Rheinland. Die zentrale Auseinandersetzung fanden indessen in Baden und in der Pfalz statt. Der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee – etwa 27.000 Mann, zusammengesetzt aus übergelaufenen badischen Soldaten, Volkswehren und Freischaren – standen 55.000 Soldaten unter preußischer Führung gegenüber. Gegen eine solche Übermacht war der Krieg nicht zu gewinnen. Die letzte Schlacht wurde im badischen Rastatt geschlagen. Mit der Kapitulation vom 23. Juli 1849 war die bürgerliche Revolution beendet. Die Machtfrage wurde nicht für, sondern gegen die Bourgeoisie entschieden, der »preußische Weg« der Entwicklung des Kapitalismus hatte sich durchgesetzt.
Abspann
Die Diskussionen darüber, welche Folgen das nun für Deutschland hatte, geführt unter den Stichworten »der deutsche Sonderweg« und die »verspätete Nation«, waren im Grunde schon wieder beendet, als eine angeblich per Revolution glücklich »wiedervereinte« Nation zum 150. Jahrestag entspannt auf die Geschehnisse der Jahre 1848/49 zurückschaute. Ein kurzer Blick in eine Auswahl der damals zahlreich erschienenen Publikationen zum Thema macht deutlich, was die gleichsam offizielle liberale Geschichtsschreibung anno 1998 von der Sache hält. Da durfte die »Auffassung, mancher Revolutionsgegner, dass ein kontinuierlicher Wandel im Sinne sorgfältig durchgeführter Reformen, dem allgemeinen Umsturz bestehehender Verhältnisse durch Revolutionen vorzuziehen ist, (…) auch heute noch manches für sich haben«.³ Da wird ein Scheitern in einen Erfolg umgebogen, denn die deutsche Revolution habe »den üblichen Verlauf von Revolutionen revolutioniert: Sie hat Maß gehalten«.⁴ Und um es klar zu sagen: Ein Erfolg der linken »Desperadopolitik« hätte einen großen Krieg auf dem Kontinent entfacht, das Ergebnis wäre »vermutlich eine europäische Katastrophe« gewesen, was nun also »der liberalen Verständigungspolitik zu einem erheblichen Maß an politischer Plausibilität« verholfen habe.⁵ Man sieht, an der Haltung der Bürgerlichen zur bürgerlichen Revolution hat sich nichts geändert.
Anmerkungen
1 Zit. n.: Gudrun Kruip: Gescheiterter Versuch oder verpflichtendes Erbe? 1848 bei Theodor Heuss. In: Patrick Bahners und Gerd Roellecke (Hg.): 1848 – Die Erfahrung der Freiheit. Heidelberg 1998, S. 189–208, hier S. 198
2 Heinrich von Sybel: Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., Bd. 1. München 1889; vgl. Patrick Bahners: Akademischer Rausch und politische Ernüchterung. Heinrich von Sybel als Geschichtsschreiber der deutschen Revolution. In: Bahners, Roellecke, a. a. O., S. 163–187, hier S. 177
3 Hans-Christof Kraus: Revolution – Gegenrevolution – Gegenteil der Revolution. Die Bewegung von 1848 und ihre Gegner. In: Bahners, Roellecke, a. a. O., S. 119–146, hier S. 146
4 Gerd Roellecke: Ein Reigen von Gewalt und Recht. 1848 im Wandel der sozialen Strukturen. In: Bahners, Roellecke, a. a. O., S. 1–33, hier S. 33
5 Heinrich August Winkler: Der überforderte Liberalismus. Zum Ort der Revolution von 1848/49 in der deutschen Geschichte. In: Wolfgang Hardtwig (Hg.): Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998, S. 185–206, hier S. 196
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