»Der Staat macht sich bereit für soziale Konflikte«
Interview: Hendrik Pachinger
An diesem Sonnabend, dem Tag der politischen Gefangenen, gibt es in vielen Städten Kundgebungen, um die Freilassung von aus politischen Gründen Inhaftierten zu fordern. Welche Bedeutung hat dieser Tag heute für linke und revolutionäre Kräfte in Deutschland?
Der 18. März ist ein wichtiger Tag der Solidarität für alle linken Kräfte. Seine Bedeutung wächst jährlich, seit er Mitte der 90er Jahre wieder ausgerufen wurde. Das haben wir damals mit der Gruppe Libertad zusammen initiiert. Es geht darum, klarzumachen, dass diese Regierung, die Herrschenden und ihre Repressionsorgane zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Bewegungen politisch verfolgen und in einigen Fällen auch einsperren. Das wollen wir öffentlich benennen und die Freilassung der Genossinnen und Genossen fordern.
Viele Menschen würden politische Gefangene wohl eher mit autokratischen Regimen wie der Türkei oder Saudi-Arabien in Verbindung bringen. In einem europäischen Rechtsstaat könne es so etwas nicht geben, hört man dann oft. Was entgegnen Sie dem?
Selbstverständlich gibt es eine politische Gesinnungsjustiz, eine Klassenjustiz der Herrschenden. Wer daran zweifelt, dem empfehle ich einen genauen Blick auf die Verhältnisse. Es ist doch wohl politisch gesteuert, wenn Kurdinnen und Kurden jahrelang weggesperrt werden, weil sie Veranstaltungen organisieren, Kundgebungen anmelden und nach einem Fest im Verein noch aufräumen. Das ist alltägliche politische Arbeit für viele Initiativen, aber hier wird Terrorismus daraus gemacht. Oder das sogenannte »Antifa Ost«-Verfahren: Jungen Antifas werden Körperverletzungen gegen militante Neonazis vorgeworfen, aber auf einmal kommt die Bundesanwaltschaft um die Ecke und macht eine kriminelle Vereinigung daraus. Die Hauptangeklagte Lina E. wird mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen, und es folgt eine riesige Medienkampagne. Auch diesen Angeklagten drohen Jahre Haft. Die Klimaschutzbewegung ist ein weiteres Beispiel für hanebüchene Urteile zur Abschreckung. Auch das ist glasklar politisch motiviert: wochenlange Präventivhaft für eine Sitzblockade, das spricht doch für sich.
Aktuell sitzen so viele politische Gefangene in deutschen Knästen wie schon lange nicht mehr. Warum verschärft der Staat seit geraumer Zeit sein Vorgehen gegen emanzipatorische Kräfte?
In erster Linie, weil er es kann. Die gesamte Linke sollte neuen Schwung holen und sich dieser Entwicklung noch stärker und geschlossen entgegenstellen. Schließlich sind wir auch alle betroffen. Ein weiterer Punkt ist, dass der Staat sich bereitmacht für kommende soziale Auseinandersetzungen. Wer weiß, ob die Mehrheit der Menschen sich dauerhaft Inflation, Lohneinbußen, Mietwucher und Sozialabbau gefallen lässt oder sich auch massenhaft zur Wehr setzt. Die linke Bewegung soll klein gehalten werden, dafür werden Exempel statuiert.
Welche Beispiele fallen Ihnen derzeit für politische Gefangene in Deutschland ein?
Zu den bereits genannten kommen etwa noch die Antifaschisten Jo, Dy und Findus aus Süddeutschland dazu, die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. In Stuttgart gab es noch Verurteilungen zu Haftstrafen wegen angeblicher Beteiligung an der sogenannten Krawallnacht vom Juni 2020. Aber auch türkische Linke werden verfolgt, wie zum Beispiel Ihsan Kübelik, Mitglied der populären linken Band Grup Yorum.
Der Schwerpunkt Ihrer diesjährigen Sonderzeitung zum 18. März lautet »Schikanen im Knast«. Wie wird hinter Gittern gegen linken Widerstand vorgegangen?
Es gibt eine Vielzahl von Schikanen. Isolationshaft, Besuche untersagen, Bücher verbieten, ärztliche Versorgung erschweren, das Licht nachts in den Zellen brennen lassen und vieles mehr. All das trifft politische Gefangene im besonderen und da machen auch die Anstaltsleitungen keinen Hehl draus – auch ein Beispiel für politische Justiz.
In der Sonderausgabe heißt es: »Die Kämpfe der gefangenen Genossen sichtbar machen«. Was muss dafür getan werden?
Den Gefangenen schreiben, Adressen findet man in unserer erwähnten Sonderzeitung, Knastkundgebungen abhalten oder Artikel und Diskussionsbeiträge der von uns betreuten Gefangenen veröffentlichen. Sie müssen einbezogen werden, damit sie wissen: Sie sind nicht alleine.
Anja Sommerfeld ist Mitglied des Bundesvorstandes der Solidaritätsorganisation Rote Hilfe e. V.
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Ebenso die mit Ihsan verhafteten Linken im Mai: Özgül Emre, Peter-Caesar-Allee 1, 55597 Wöllstein. Er spricht Türkisch, auch Englisch und lernt Deutsch; Serkan Küpeli (türkisch, deutsch), Holstenglacis 3, 20355 Hamburg. Schließlich Hasan Unutan, Asperger Str. 60, 70439 Stuttgart, wurde inhaftiert im Februar, weil er solidarische Arbeit zu diesen drei Gefangenen geleistet hat.
Wolfgang Lettow, Mitglied der Redaktion des Gefangenen Infos
https://www.rote-hilfe.de/downloads1/category/2-18-maerz-tag-der-politischen-gefangenen-rhz-sonderausgaben