»Es heißt, sie würden sich nur bereichern wollen«
Interview: Fabian Linder
Neben anderen sind auch viele Menschen mit Romani-Hintergrund auf der Flucht aus der Ukraine. Bei deren Ankunft in Deutschland erlebten diese Ungleichbehandlung, kritisieren Sie und verweisen auf einen Fall aus Mannheim. Was ist dort passiert?
Am 23. März sind flüchtende Menschen mit Romani-Hintergrund am Mannheimer Bahnhof angekommen. Ehrenamtliche Helfer empfingen und begleiteten die in der Nacht Angereisten zu Räumlichkeiten der Deutschen Bahn, die für Geflüchtete bereitstehen. Beschäftigte der DB-Sicherheit äußerten dort, »solche Menschen« kämen hier nicht rein. Verwiesen wurde auf Diebstähle und Verschmutzungen. Durch diese »Klientel« sei schon mehrfach die »Hütte« leergeräumt worden. So gaben Zeugen die Aussagen der Sicherheitsleute wieder. Dann kam die Bundespolizei dazu. Es waren immer mehr Sicherheitsleute anwesend, darunter auch eine Beamtin, die einen Dobermann-Hund privat mitführte. Das Ganze entsprach einer für die Schutzsuchenden verstörenden Drohkulisse. Beim Gespräch mit der Bahn einen Tag später wurden diese Fehler eingestanden.
Das alles war äußerst traumatisierend, auch für die Helfer. Infolge dieser chaotischen Situation kam es nicht einmal zur Ersthilfe mit Lebensmitteln. Andere ukrainische Geflüchtete wiederum hatten zeitgleich keine Probleme dabei, in die Unterkunft zu kommen.
Wie erklären Sie sich dieses Vorgehen?
Wir sehen vor allem in Stressituationen an Bahnhöfen, Ländergrenzen oder in den Notunterkünften, dass Menschen auf antiziganistische Stereotype zurückgreifen. Den Flüchtenden wird beispielsweise kein Essen und Trinken angeboten, statt dessen wirft man ihnen vor, sie würden sich in der Situation nur bereichern wollen. Auch der Vorwurf des Klauens entspringt einem ganz alten Ressentiment.
Was wissen Sie über Übergriffe auf fliehende Sinti und Roma in der Ukraine oder den Nachbarländern?
Aus der Ukraine, Moldau, der Slowakei und weiteren Ländern gibt es Berichte von Übergriffen. Die Menschen, die am Bahnhof in Mannheim abgewiesen wurden, haben uns berichtet, dass sie in der Ukraine beim Versuch, die Grenze zu übertreten, von anderen ukrainischen Geflüchteten nach hinten gedrängt wurden. In Polen gibt es Berichte von Menschen, die verschwunden sind. Es gibt dort Vermutungen, sie würden Opfer von Menschenhandel.
Haben Sie Kontakt zu Partnerorganisationen dort?
Das European Roma Rights Centre beobachtet die Situation vor Ort und in den Grenzregionen. In Fluchtsituationen und im Krieg sind benachteiligte Gruppen immer doppelt betroffen. Das wird sich weiter zuspitzen, wenn es zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung kommt.
Was erwarten Sie angesichts der Berichte über Übergriffe und Schikanen von der Bundesregierung und der EU?
Europaweit ist es jetzt wichtig, mit den Ländern in Kontakt zu bleiben. Nachdem es in der Slowakei diskriminierende Vorfälle gab, wurden Bemühungen unternommen, solchem Verhalten an den Grenzübergängen entgegenzuwirken.
In Russland und der Ukraine ist Antiziganismus nicht neu. Wie hat sich die Situation für Betroffene verändert?
Sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt es eine starke rechte Szene. In der Vergangenheit kam es in der Ukraine zu gewalttätigen Übergriffen und Vertreibungen. Es gibt aber auch andere Gegenden in dem Land, wo dies nicht der Fall ist. Darüber hinaus kämpfen auch Tausende Sinti und Roma in der dortigen Armee und den territorialen Selbstverteidigungseinheiten. Es gibt Roma-NGOs, die vor Ort aktiv sind und humanitäre Hilfe leisten für alle Menschen – nicht nur Roma.
Es leben etwa 400.000 Roma in der Ukraine. Zehn bis zwanzig Prozent davon haben keine Ausweispapiere, sondern oft nur alte sowjetische oder russische Pässe. Dementsprechend gibt es Probleme bei der Ausreise und Einreise in die Nachbarländer. Es ist noch unklar, wie Deutschland und andere Staaten mit »papierlosen« Menschen umgehen werden. Fest steht: Antiziganistische Stereotype, hier würden sich Menschen etwas erschleichen wollen, werden befeuert. Es wird ihnen abgesprochen, Kriegsflüchtlinge zu sein – man sieht sie häufig nur als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge.
Chana Dischereit ist Wissenschaftliche Referentin für Politik und Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg
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