Aufstand der Pensionäre
Von Nick Brauns
Als der sowjetische Staatschef Josef Stalin Ende 1939 den türkischen Außenminister Sükrü Saracoglu in Moskau empfing, begrüßte er ihn mit den Worten: »Ich hoffe, Sie haben die Schlüssel für die Meerengen mitgebracht.« Der türkische Diplomat konterte unter Verweis auf den drei Jahre zuvor noch zu Lebzeiten von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk geschlossenen Vertrag von Montreux: »Ich bedauere, eure Exzellenz! Mustafa Kemal hat sie mit sich genommen.« Mit diesem bis heute gültigen Abkommen hatte die Türkei volle Souveränität über die seit ihrer Kriegsniederlage von einer Völkerbundkommission kontrollierten Meerengen Bosporus und Dardanellen sowie das Marmarameer zurückerhalten. Während die Passage für Handelsschiffe ohne Einschränkungen besteht, kontrolliert die Türkei die durch den Vertrag nach Zahl und Tonnage beschränkte Zufahrt von Kriegsschiffen in das Schwarze Meer, deren Durchfahrt sie im Kriegsfall auch ganz stoppen darf.
Kemalisten alarmiert
Atatürks heutige Anhänger sehen dieses Abkommen, das sie neben dem Lausanner Friedensvertrag von 1923 als völkerrechtlichen Pfeiler der Unabhängigkeit der Türkischen Republik betrachten, nun gefährdet. Grund ist ein von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Wahlkampf 2018 erstmals verkündetes Projekt einer künstlichen Wasserstraße zwischen dem Marmara- und Schwarzen Meer. Bislang ist noch kein Meter des Kanals gegraben. Doch vergangene Woche hat die Aussage von Parlamentssprecher Mustafa Sentop, wonach Erdogan die Autorität zur Aufkündigung des Montreux-Abkommen habe, die Alarmlampen bei den Kemalisten aufleuchten lassen. »›Kanal Istanbul‹ wird das Montreux-Abkommen zur Diskussion stellen, und das wird dazu führen, dass die Türkei ihre absolute Souveränität über das Marmarameer einbüßt«, warnten 126 pensionierte Diplomaten in einem offenen Brief am 1. April. Ihnen folgten am Sonnabend 104 pensionierte Admiräle mit einer zur mitternächtlichen Stunde veröffentlichten Erklärung, in der sie ihre Sorge über einen möglichen Ausstieg aus dem Abkommen kundtaten. Angesichts einer Unterwanderung der Streitkräfte durch islamistische Sekten riefen sie dazu auf, den »Pfad der Moderne« von Atatürk weiterzugehen. Am Montag meldeten sich auch 96 frühere Parlamentsabgeordnete in diesem Sinne zu Wort.
Die Regierungsallianz aus Erdogans islamistischer AKP und der faschistischen MHP sprach umgehend von Putschvorbereitungen. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf wegen »Absprache zur Begehung eines Verbrechens gegen die staatlichen Sicherheits- und Verfassungsordnung«. Zehn Admirale a. D. wurden am Montag in Haft genommen. Erdogan nannte deren Erklärung am Montag abend einen Angriff auf die Demokratie, versicherte aber, am Montreux-Abkommen festhalten zu wollen.
Versöhnliches Signal an EU
Der Versuch der Regierung, die Unterzeichner auch in die Nähe der als Staatsfeind Nummer eins verfolgten Gülen-Sekte zu rücken, geht indessen fehl. So waren einige der jetzt inhaftierten Admirale bereits vor zehn Jahren schon einmal auf Betreiben der Gülenisten verhaftet worden. Andere hatten im Juli 2016 an der Niederschlagung des von den Gülenisten initiierten Putsches mitgewirkt. Verhaftet wurde auch Admiral a. D. Cem Gürdeniz, der Architekt der Marinestrategie »Blaue Heimat«. Auf dieses Konzept zur Vormacht im östlichen Mittelmeer geht das Ende 2019 von der Türkei mit Libyen geschlossene Seegrenzabkommen sowie die Kanonenbootpolitik gegenüber den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern im Streit um unterseeische Erdgasvorkommen zurück. So erscheint der Schlag gegen die kemalistischen Marinepensionäre als versöhnliches Signal der Erdogan-Administration an die EU, deren Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratschef Charles Michel am Dienstag zu Kooperationsgesprächen nach Ankara reisten.
Ein perspektivisch im Raum stehender Ausstieg aus dem Montreux-Abkommen käme wiederum der Einkreisungspolitik der USA gegenüber Russland entgegen. Damit würden Beschränkungen zur Verlegung der Kriegsschiffe von Nicht-Schwarzmeer-Anrainerstaaten fallen.
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