Bundestag will gefragt werden
Von Kristian Stemmler
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat am Donnerstag im Bundestag die am Vortag mit den Ministerpräsidenten der Länder für den November beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie, die als »Lockdown light« verkauft werden, gegen Kritik verteidigt. In einer Regierungserklärung bezeichnete Merkel die Maßnahmen als »geeignet, erforderlich und verhältnismäßig«. Wenn man abwarte, »bis die Intensivstationen voll sind«, sei es zu spät. Die Pandemielage in Deutschland bezeichnete die CDU-Politikerin als dramatisch. In den vergangenen Wochen seien die Zahlen der Neuinfektionen »deutlich in die Höhe geschnellt«, sagte sie. Viele Gesundheitsämter seien an der Belastungsgrenze.
»Wir befinden uns zum Beginn der kalten Jahreszeit in einer dramatischen Lage. Sie betrifft uns alle. Ausnahmslos«, so Merkel. Die breite Debatte über das Vorgehen der Regierung begrüßte sie, warnte aber vor einer politischen Instrumentalisierung der Pandemie. »Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass« beschädigten nicht nur die demokratische Debatte, »sondern auch den Kampf gegen das Virus«. Merkels Rede wurde von Abgeordneten der AfD wiederholt mit lauten Zwischenrufen unterbrochen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sah sich genötigt, der stellenweise verunsichert und überfordert wirkenden Kanzlerin beizuspringen und die AfD-Fraktion zur »Disziplin« zu ermahnen.
Merkels Mahnungen hielten die AfD nicht davon ab, das Thema in der Aussprache zur Regierungserklärung politisch zuzuspitzen. Fraktionschef Alexander Gauland sagte, die täglichen Informationen der Bevölkerung mit Daten zur Entwicklung der Pandemie seien »Kriegspropaganda«. Dazu passe, »dass wir neuerdings von einer Art Kriegskabinett regiert werden«, ergänzte er. Gauland sprach von einer »Coronadiktatur auf Widerruf«.
Auch FDP-Fraktionschef Christian Linder kritisierte das Vorgehen der Regierung. Ihn störte in erster Linie, dass der Bundestag nicht in die Entscheidungen eingebunden war. Eingriffe in Freiheitsrechte dürften nicht »ohne Öffentlichkeit und nur von Regierungsspitzen« beschlossen werden. Selbst wenn Einschränkungen des öffentlichen Lebens notwendig sein könnten, so Lindner, müsse die Debatte vor der Entscheidung stattfinden und nicht danach.
Das sah Amira Mohamed Ali, Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke, genauso. Es gehe nicht an, dass der Bundestag erst nach der Festlegung über die bereits beschlossenen Maßnahmen debattiere. Für die Akzeptanz der Einschränkungen sei das nicht gut. Die Fraktionschefin von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckardt, warf der Bundesregierung vor, den Sommer hinweg untätig gewesen zu sein. So sei aus der Infektionskrise eine Vertrauenskrise geworden. Auch sie forderte, dass zur Eindämmung der Pandemie getroffene Einschränkungen künftig im Bundestag beschlossen werden.
Genau das ist ein Ziel des FDP-Antrags, der nach der Regierungserklärung debattiert wurde. Im Antragstext wird betont, dass Maßnahmen, die zu erheblichen Eingriffen in Grundrechte führten, vom Parlament legitimiert werden müssten. Die Bundesregierung habe die Zeit seit März nicht genutzt, »um ihr Handeln anhand klarerer und transparenterer Kriterien auszurichten«.
Im Antrag wird gefordert, eine Novelle des Infektionsschutzgesetzes vorzulegen, die die durch die Bundesländer zu erlassenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie auf eine »ausreichend bestimmte und spezifizierte Rechtsgrundlage« stellt. Bei der Einführung von Verordnungsermächtigungen im Infektionsschutzgesetz für den Bund solle zudem verstärkt auf parlamentarische Erlassvorbehalte und Unterrichtungspflichten gesetzt werden. Der Bundestag solle darüber hinaus einen Expertenrat aus Medizinern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Verfassungsrechtlern einsetzen, der die Abgeordneten bei der Einordnung von »Anticoronamaßnahmen« unterstützt.
Jan Korte, parlamentarischer Geschäftsführer der Linksfraktion, unterstützte den Antrag. Die Runde der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten sei »nirgendwo in der Verfassung vorgesehen«, sagte er. »Das geht nicht in einem demokratischen Rechtsstaat«, so Korte weiter. Dass das ganze Land vor dem Fernseher warte, wann die neuen Regeln verkündet würden – diese »ganze Attitüde« passe nicht zu dem, was in der Krise gebraucht werde: »Transparenz und Akzeptanz«. Der Bundestag müsse stärker eingebunden werden, forderte Korte. Die Bundeskanzlerin solle vor und nicht nach einer Runde mit den Ministerpräsidenten ihr Vorgehen im Parlament in einer Regierungserklärung präsentieren.
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