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Aus: Ausgabe vom 30.01.2016, Seite 10 / Feuilleton

Unverbesserlich

Von Michael Saager

Okay, ein so fantastisches Stück wie »Gigantes«, dieses unfassbare Kraut-Afrobeat-Technosoul-Brett mit Peitschenschlagzeug und sternenschöner Melodie von der letzten Tortoise-Platte »Beacons of Ancestorship« (2009), gibt es auf »The Catastrophist« leider nicht. Man kann eben nicht alles haben.

»Alles« (oder beinahe alles) ist andererseits kein so schlechtes Stichwort für das neue, erfreulich flexible Album von Tortoise aus Chicago, dieser ersten, besten und weltberühmtesten aller Postrockbands, deren Sound die britische Musikfachzeitschrift Wire vor Jahren »Avant-Rock auf der Kante« nannte. Dass die Sterne für Postrock derzeit besser stehen würden als noch vor sieben Jahren, kann man nicht behaupten. Kein Mensch macht heute Postrock, diese musikalisch hochinformierte, bisweilen sogar halbwegs rockende Nicht-Rockmusik aus dem Geiste von Dub, Jazz, Prog- und Krautrock.

Kein Mensch – außer Tortoise. Umso ungenierter kann man zeigen, was man mit Beats und Bässen so alles anstellen kann, wenn man es denn kann. Unser Quintett kann natürlich, zu hören gibt es deshalb: unfassbar abwechslungsreich gespielte und hochpräzise Schlagzeugfiguren des informellen Bandleaders John McEntire, herrlich schwere Dub-Bässe, absichtlich wankende Grooves, subtilste Soundtexturen. Tortoise liegen katzenartig auf der Lauer und packen dann zu. Sie verdichten, öffnen, lassen ganz locker, verdichten wieder, erzeugen so Spannung in den Stücken selbst und über stupenden, postrockigen Abwechslungsreichtum auch auf Albumlänge. Und progrockig rumdaddeln mit Gitarre und Synthie, ja, das tun sie natürlich auch dann und wann. Da sind sie ganz die alten unverbesserlichen Prog-Rock-Revivalisten, die sie immer auch schon waren.

Tortoise: »The Catastrophist« (Thrill Jockey/Rough Trade)