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Niemeyer von VS abgeschöpft

Zu den Motiven für die Forderung nach Abschaffung der 610-Mark-Jobs
Von ddpADN

Die Debatte um die Abschaffung geringfügiger Beschäftigung hat nicht nur eine ungewöhnliche Konstellation der Streitparteien hervorgebracht, sie zeigt auch, wie dehnbar der Begriff der sozialen Absicherung ist. Während Gewerkschaften, Bündnis 90/Die Grünen und die PDS kategorisch die Einbeziehung jeglicher dauerhaften Arbeit in sämtliche Sozialsysteme verlangen, vertreten CDU/CSU und SPD offenbar den Standpunkt, wer nur teilzeitweise arbeite, brauche auch nur einen Teil des Schutzes. Für die FDP und die Unternehmerverbände hingegen scheinen sich in dieser Diskussion ohnehin nur die Schwanengesänge des Sozialstaates zu spiegeln.

Der Fall ist klar. Eine Ausnahmeregelung aus den 50er Jahren ist für mindestens 4,5 Millionen Menschen zur Regel geworden. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der sogenannten 610 Mark Jobs mehr als verdoppelt - zu Lasten regulärer Beschäftigung. Will man die Entwicklung umkehren, müssen die Teilzeitjobs versicherungspflichtig werden.

Die Sozialdemokraten haben einen derartigen Vorschlag schon im Dezember 1995 als Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht. Eine Beitragspflicht sehen sie allerdings nur für die Kranken- und die Rentenversicherung, nicht aber für die Arbeitslosenversicherung vor. Teilzeitbeschäftigte hätten also keinen Anspruch mehr auf Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz. Sicherlich kein Mittel gegen die »Spaltung des Arbeitsmarkes« wie angekündigt. Das Ziel ist wohl die allgemeine Senkung der Beitragssätze.

Die Vorstellungen der Christdemokraten gehen mit denen der SPD durchaus in eins. Allerdings ist »noch keine Entscheidung in der Gesamtfraktion« der CDU/CSU gefallen. Das Spektrum der Vorschläge reicht von der Einbeziehung versicherungsfreier Zweitjobs in die Beitragspflicht über die Senkung der Bagatellgrenze auf 350 Mark, bis zur Erhöhung der Pauschalbesteuerung von derzeit 20 auf 25 Prozent. Die Hälfte dieser Einnahmen soll in die Rentenkassen fließen.

Die Vorschläge der Union sind nicht neu. Sie wurden schon bei der Vorbereitung der Rentenreform diskutiert, aber wieder verworfen. Da sie nun wieder hervorgeholt werden, scheint es um Blüms Finanzierungsmodell nicht gut zu stehen. Außerdem tun sich die Unionsparteien und Sozialdemokraten schwer, die Segnungen des Sozialstaats radikal abzubauen. Vollzeitbeschäftigte und Rentner müssen bei Laune gehalten werden. Die FDP hingegen kann sich ungeniert als Vorbote einer neuen Zeit gerieren.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, Handwerkspräsident Dieter Philipp und die verschiedenen Sprecher der Liberalen bezeichneten die Einführung der Versicherungspflicht unisono als beschäftigungspolitischen Unsinn. Wie Vertreter des Einzelhandels und des Mittelstandes bestehen sie auf einem Bedarf der Unternehmen an Aushilfskräften. Indirekt bestätigte die Kapital-Lobby aber den Mißbrauch geringfügiger Beschäftigung. Hundt und Philipp machten »die Abgabenlast« für die gestiegene Zahl der 610 Mark-Jobs verantwortlich.

Überraschenderweise führen Hundt und FDP-Abgeordnete auch soziale Gründe für ihre ablehnende Haltung an. 610- Mark-Jobs seien eine »wertvolle Möglichkeit, sich etwas hinzuzuverdienen«. Deren Abschaffung, so die Sozialexpertin der Freidemokraten Gisela Babel sei »zutiefst unsozial«. Außerdem lehnten die meisten geringfügig Beschäftigten die Abführung von Sozialbeiträgen ab.

Gewerkschaftsvertreter hingegen weisen darauf hin, daß Beschäftigte, die gegen die Sozialversicherungspflicht seien, oft nicht wüßten, worauf sie sich einließen. Oft, so Ilona Schultz-Müller von der Deutschen Angestellten Gewerkschaft, befänden sie sich in einer Zwangslage. Zudem seien mehr als 70 Prozent der geringfügig Beschäftigten Frauen und von denen immer weniger über einen Ehemann abgesichert. »Was wir benötigten,« argumentierte Maria Kathmann vom DGB, »das ist eine eigenständige Absicherung - auch gegen Arbeitslosigkeit.«

Rentenansprüche aus geringfügiger Beschäftigung allein reichen allerdings nicht für eine Absicherung im Alter aus. »Als Füllzeiten«, so Maria Kathmann, »haben sie jedoch durchaus Einfluß auf die Rentenhöhe.« Die grundsätzliche Forderung aber, so Ilona Schultz-Müller, ist die nach »normalen Arbeitsverhältnissen, von denen man existieren kann.«

Dieter Kalcic

(Bildtext)

Rund 1 200 Demonstranten protestierten am Sonnabend gegen das Vorhaben der Bundesregierung, abgebrannte Brennelemente aus süddeutschen Atomkraftwerken in das Zwischenlager Ahaus zu bringen. Nach der friedlich verlaufenen Kundgebung besetzte eine größere Gruppe die Gleisanlage. Die Polizei setzte Schlagstöcke ein und nahm rund 150 Demonstranten vorübergehend fest. Ein Sprecher der Demonstranten warf der Polizei vor, die Übersicht verloren zu haben und unprofessionell und übernervös vorgegangen zu sein. Selbst zwölfjährige Kinder seien mit Kabelbindern gefesselt und von ihren Eltern getrennt worden. Rund die Hälfte der in Gewahrsam genommenen Demonstranten seien minderjährig gewesen.

(AFP/jW)

GELSENKIRCHEN. Eine Wende in der Baupolitik haben am Samstag die Gewerkschaften IG BAU und ÖTV sowie der Dachverband DGB gefordert. Öffentliche Investitionen müßten vorgezogen werden, um die Bautätigkeit zu beleben und damit Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, forderten Sprecher der Gewerkschaften nach DGB-Angaben auf ihrem gemeinsamen Bauingenieur- und Architektentag in Gelsenkirchen. Derzeit seien mehr als 5 000 Architekten und etwa 8 000 Bauingenieure arbeitslos gemeldet.

DGB-Bundesvorstandsmitglied Günter Dickhausen sagte, hinzu kämen Tausende Angehörige beider Berufsgruppen, die um ihre Arbeitsplätze bangten oder die in befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt seien. Darüber hinaus breite sich die Scheinselbständigkeit gerade in diesen Bereichen aus.

(AFP/jW)

BONN. Die CSU soll nach den Worten von Bundeskanzler Kohl noch vor ihrem am 21. November beginnenden Parteitag einen Ausgleich für den Wegfall des von ihr geführten Postministeriums erhalten. Dies kündigte Kohl im ZDF an. Er lehnte es zugleich ab, einzelne Namen zu nennen. Der Kanzler bekräftigte, daß es keine Kabinettsumbildung geben werde.

(ddpADN/jW)

MÜNCHEN. Der Ehemann der PDS-Politikerin Sahra Wagenknecht ist nach einem Focus-Bericht vom deutschen Verfassungsschutz abgeschöpft worden. Dem Nachrichtenmagazin zufolge wurde Ralph-Thomas Niemeyer 1996 in einem Kölner Gefängnis befragt. Der 28jährige habe dort wegen Anlagebetrugs in Untersuchungshaft gesessen.

Laut Focus waren Verfassungsschützer sowie Staatsschützer des BKA auf Niemeyer aufmerksam geworden, weil er in der Haftanstalt Kontakte zu dem mutmaßlichen Mitglied der Antiimperialistischen Zellen (AIZ) Bernhard Falk unterhielt.

Niemeyer machte nach eigenen Angaben Aussagen »in allgemeiner Form« über Falk und die Kommunistische Plattform der PDS, deren Sprecherin Sahra Wagenknecht ist. Dem Magazin sagte Niemeyer: »Man hat mir gedroht, wenn ich nicht aussage, könnte ich Ärger wegen Mitwisserschaft bekommen.«

BKA, Staatsschutz und das Bundesamt für Verfassungsschutz, das die Kommunistische Plattform beobachtet, wollten den Fall gegenüber Focus nicht kommentieren.