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Aus: Ausgabe vom 27.06.2008, Seite 13 / Feuilleton

Traditionspflege

Der größte erhaltene jüdische Friedhof Europas ist heute in Berlin-Weißensee zu finden. Eine von rund 115000 Grabstätten erinnert an Kurt Tucholskys Vater Alex. Es gibt sie seit 1905. Da war der Schriftsteller 15 Jahre alt. Als er 35 war, reimte er über den Friedhof: »Sie kamen hierher aus den Betten, aus Kellern, Wagen und Toiletten, und manche aus der Charité, nach Weißensee, nach Weißensee.« Mit 45 ist er gestorben. Im schwedischen Exil. Um sein Grab in der Nähe von Schloß Gripsholm kümmert sich seit zwei Jahren die deutsche Botschaft. Um das Grab seines Vaters, das auch an die 1943 im KZ Theresienstadt ermordete Mutter Doris erinnert, hat sich lange niemand gekümmert. Es verfiel. Dann hat sich die letzte lebende Verwandte der Sache angenommen: Brigitte Rothert (80), gebürtige Dresdnerin, in Victor Klemperers Tagebüchern erwähnt.

Rothert war lange Russischlehrerin in Ostberlin, kümmerte sich schon zu dieser Zeit um das Werk ihres Großcousins, das heute nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, was die Finanzierung der Erneuerung des Grabes erschwerte. Aber Rothert hat es geschafft. Heute wird sie das sanierte Grab zusammen mit einiger Politprominenz und der Schauspielerin Gisela May feierlich übergeben. Wenige Stunden später hat sie einen weiteren offiziellen Termin. Im Stadtteil Prenzlauer Berg wird die Kurt-Tucholsky-Bibliothek wiedereröffnet, ein halbes Jahr nach der Schließung, gegen welche Rothert mit Anwohnern erfolgreich gekämpft hat. (ddp/jW)

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