Leserbrief zum Artikel Corona: Alles dicht machen
vom 24.04.2021:
Zu kurz gegriffen
Der Kommentar zu »Alles dicht machen« bzw. Jan Josef Liefers geht meines Erachtens an der Absicht der Kulturschaffenden vorbei. Sie reagieren mit Ironie, teilweise Zynismus und Sarkasmus auf den neuesten Lockdown. Die meisten Beiträge kritisieren die Art und Weise der Pandemiebekämpfung, zweifeln aber nicht an der Existenz des Virus und der Dringlichkeit, es zu bekämpfen. Manche Beiträge sind schwer verständlich, so ist das eben bei Ironie. Aber: Ein Blick auf die Internetseite allesdichtmachen.de der Aktion hätte die Erkenntnis gebracht, dass es um die richtige Pandemiebekämpfung geht. Sie vorschnell in die rechte Ecke zu schieben, wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Das Dilemma ist doch, dass die Strategie gegen Covid-19 fast ausschließlich den privaten Bereich trifft. Familien, Kinder, Senioren, Einzelhandel, Gastronomie, Hotellerie und Kultur befinden sich seit einem Jahr mehr oder weniger im Ausnahmezustand. Dort sind Tausende Beschäftigte in prekären Arbeitsverhältnissen ohne soziale Absicherung wie Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeitergeld ohne Arbeit und ohne Einkommen. Dagegen können Industrie, Logistiker und sehr viele Bereiche der Arbeitswelt tun und lassen, was sie wollen. Nach wie vor endet die gesellschaftliche Verantwortung vor dem Werkstor, dahinter herrscht die Profitlogik. Der Daimler-Konzern hat im 1. Quartal mit circa 4,4 Milliarden Euro Gewinn gezeigt, was er von den Coronamaßnahmen hält. Ein großes Dilemma ist das Nichtvorhandensein sichtbarer Proteste von links. Der Protest auf der Straße wird den »Querdenkern« überlassen. Immerhin gibt es Aktionen gegen deren unverschämtes Auftreten und ihre Duldung durch die Staatsmacht. Jedoch gelingt es bisher nicht, eigenständige Protestaktionen mit linkem Profil in nennenswertem Umfang auf die Beine zu stellen. Gute Aktionen wie »Zero Covid« und andere schaffen es nicht, eine Massenbasis zu erkämpfen. Es gibt jede Menge guter und richtiger Forderungen: Freigabe der Impfstofflizenzen, konsequenter Lockdown über einige Wochen inclusive der Arbeitswelt, Neuaufstellung des Krankenhauswesens mit genügend und besser bezahlten Pflegekräften und die Erarbeitung von Öffnungsstrategien für die Zeit nach einem Lockdown. Jetzt die verzweifelten Hilferufe von kurz vor dem Abgrund stehenden Künstlern nur als nebulös abzukanzeln greift zu kurz. Ein bissiger Kommentar zur Erlaubnis, die Fußball-M in München in vier Spielen vor 14.000 Zuschauern zu erlauben, wäre meines Erachtens der Situation im Land eher gerecht geworden.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 27.04.2021.