Leserbrief zum Artikel Reden ist Silber: Klassismus
vom 22.03.2021:
Erst das Fressen ...
Gerhard Henschel tut so, als wäre er der letzte Verfechter des guten Sprachgeschmacks. Und dann geht er allen Ernstes her und verteidigt den Begriff »sozial Schwache«? Der kommt aus der gleichen Neusprech-Manufaktur wie das Unwort-Paar »Arbeitnehmer« und »Arbeitgeber«. Vordergründig hat man ihn als Euphemismus eingeführt, weil er angeblich weniger stigmatisierend ist als »arm« oder »mittellos«. Das wäre schlimm genug, denn er bringt dem Armen kein Stück Butter aufs Brot, aber dem Verwender das wohlige Gefühl, ein besonders rücksichtsvoller Mensch zu sein. Und so billig! Hintergründig verschiebt das Vernebelungswort die Schuld von den unzureichenden Verhältnissen auf das arme Individuum. Wo Armut ein wertfreier Begriff für einen Mangel an materiellem Wohlstand ist, da ist Schwäche eine Schuldzuweisung. Armut ist plötzlich keine Frage von Eigentumsverhältnissen mehr, von Unternehmensschließungen, Umstrukturierung zum Wohle der Shareholder, Niedrigstlöhnen oder der völlig unzureichenden Absicherung von Kindern, sondern Schwäche. Es ist ein als Rücksichtnahme getarnter Tritt in den Arsch: Nimm dich gefälligst zusammen, sei stark und verwertbar. Der Gipfel der Infamie ist es, Arme auch noch sozial schwach zu nennen, ganz so, als sei Besitz eine soziale Tugend. Wenn überhaupt, dann wäre es finanzielle Schwäche. Alleinerziehende Mütter, die es schaffen, ihre Kinder trotz materieller Not großzuziehen und ihnen eine anständige Bildung zu ermöglichen, sind sozial ganz offensichtlich stark. Sie sind die Gruppe mit dem größten Armutsrisiko. Menschen, deren Rente nach vierzig und mehr Jahren Arbeit nicht zum Leben reicht, haben keine sozialen Defizite. Sozial schwach sind diejenigen, die an den Armutslöhnen prächtig verdienen.
Es ist eine Frage des Anstandes und der sprachlichen Aufrichtigkeit, Arme arm zu nennen. Denn erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, und mit großem Abstand danach kommt die »achtsame« Sprache.
Es ist eine Frage des Anstandes und der sprachlichen Aufrichtigkeit, Arme arm zu nennen. Denn erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, und mit großem Abstand danach kommt die »achtsame« Sprache.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 24.03.2021.