Leserbrief zum Artikel Chinas Wirtschaftspolitik: Neue Monopole, neue Konkurrenz
vom 10.11.2020:
Ehrlicher Feind
Vielen Dank für diesen hervorragenden Artikel. Er spricht mir wirklich aus dem Herzen. Ich war 2006 auf einer Bildungsreise zu »Arbeits- und Lebensbedingungen« in China. Auch wenn das ja schon einige Jahre her ist, spiegelt dieser Artikel genau meine Erfahrungen wieder. Da war das Gespräch mit dem Chef der führenden Kinderbekleidungsmarke in Beijing. Mitglied der KP, Millionär und Vorsitzender der Gewerkschaft in seinem »eigenen« Betrieb. Im Atelier der Designerinnen war noch alles, wie es sein sollte, die Löhne waren akzeptabel, und das Betriebsklima wurde bei Anwesenheit der Chefs als angenehm geschildert. In der Schneiderei hatte keine der Näherinnen Zeit oder Mut, während der Akkordarbeit den Besuch aus Europa auch nur eines Blickes zu würdigen. Wirklich niemand hat von der Arbeit aufgesehen. Die Unterkunft der Näherinnen war ein klassischer Werkstattbau der 20er Jahre: roter Klinker, ohne Heizung, innen gekalkt, Stockbetten für acht Frauen auf 20 Quadratmetern samt ihrer ganzen Habe. »Weg zum Sozialismus«? Besonders beeindruckend war dann auch noch die Zusammenkunft mit der Gewerkschaftsführung in Guangzhou. Nach dem Besuch eines nagelneuen Honda-Werkes wurden wir noch zum Essen eingeladen. So arrogant und unverschämt, wie die Vorsitzende die Bedienung runtergemacht hat (zu langsam, falsches Essen), habe ich selten einen Menschen erlebt. Widerspruch gab es nicht. Wer hat hier zukünftig die Macht, wessen Charakter zu bewerten? Danach erklärte sie uns lächelnd, dass sie 2005 in Deutschland war und wie gut es uns gehen würde. Wir hätten ja schon den Sozialismus, auf den Sie noch hinarbeiten. Davon könnte ich noch einige Beispiele aufzählen, aber es ist ja ein Leserbrief und kein Koreferat. Fazit: In diesem »Sozialismus« will ich nicht leben und arbeiten. Auch nicht auf dem Weg dahin. Da lebe ich lieber im Kapitalismus. Da ist der Feind ehrlicher.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.11.2020.