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Leserbrief zum Artikel Serie: Um uns selber kümmern vom 10.10.2020:

Analyse statt Apologie

Es müssen ja wirklich paradiesische Zustände in der damaligen DDR geherrscht haben: Soziale Sicherheit und bescheidener Wohlstand für alle Werktätigen, die Gleichheit der Geschlechter, innerbetriebliche und politische Demokratie waren umgesetzt, ein sozialistischer Rechtsstaat, ein modernes Bildungs- und ein vorbildliches Gesundheitssystem wurden ausgebaut. Es bildete sich das Bewusstsein heraus, »Herr im eigenen Haus« zu sein, mit dem die im Kapitalismus vorherrschend Entfremdung überwunden wurde.
Da stellt sich natürlich die Frage: Wie dumm muss trotz entwickelten sozialistischen Bildungssystems die Mehrheit der DDR-Bevölkerung gewesen sein, dass sie diese paradiesischen Zustände nicht nur nicht mit Zähnen und Klauen verteidigt hat, sondern diese aktiv verließ, sie gegen »Atombomben und Corned-beef« eintauschen wollte? Und es stellt sich auch die Frage, warum sich nicht eine breite Mehrheit der ehemaligen DDR-Bevölkerung aktiv für eine Wiederkehr der damaligen Verhältnisse einsetzt, nachdem vorherrschende Illusionen über die Realität in der kapitalistischen BRD zerplatzt sein dürften? Meiner Ansicht nach wäre unserer Sache mit einer nüchternen, ehrlichen Analyse all dessen mehr gedient, was die Menschen unter den Lebensbedingungen des Realsozialismus vermisst, worunter sie auch teilweise gelitten haben, als mit einer platten Apologetik der damaligen Zustände. Eine solche Analyse müsste keineswegs in ein antikommunistisches Bashing der DDR einmünden: Sie könnte durchaus aufführen, was mit besten Absichten versucht und teilweise auch umgesetzt wurde. Und sie könnte die Ursachen dafür benennen, dass diesen Anstrengungen damals Grenzen gesetzt waren, wie sie sich etwa aus der harten Systemkonfrontation, der ökonomisch unterlegenen Ausgangsposition und der Unerfahrenheit beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft ergaben. Eine solche Herangehensweise dürfte nicht nur eine wirksamere, weil glaubwürdigere Propaganda für den Sozialismus beinhalten; sie wäre auch die Basis dafür, dass damalige Fehlentwicklungen sich bei einem zweiten Versuch nicht wiederholen.
Bernd Rautenberg, Oldenburg

Kommentar jW:

Auf diesen Leserbrief antwortete Joachim Seider:

Man könnte den Gedanken von Bernd Rautenberg vollinhaltlich zustimmen, wenn sich die Diskussion um die Werte der DDR im luftleeren Raum abspielen würde. »Analyse statt Apologie« – wie wunderbar wäre es, wenn es das im Mainstream endlich gäbe. Die Realität aber ist: Die Sieger von 1990 haben mit Häme, Weglassen, Überhöhungen und Verleumdungen die absolute Lufthoheit in der öffentlichen Auseinandersetzung. Da wirkt schon die Erwähnung ausgewählter Errungenschaften dieses kleinen Ländchens wie ein Pflaster auf die wunde Seele jener, die seine Geschichte mit ihrem Herzblut geschrieben haben. Und auch für die Nachgeborenen ist es gewiss nicht uninteressant, dass von heute Erträumtem schon manches einmal Wirklichkeit war.

Andreas Notroff antwortete:

Herr Bernd Rautenberg, ich stimme Ihnen in Ihrer Analyse der übergroßen Mehrheit der DDR-Menschen zu: »Wie dumm muss die Bevölkerung gewesen sein, dass sie diese Zustände nicht nur nicht verteidigt hat, sondern bewusst verlassen, gegen ›Atombomben und Corned beef‹ eintauschen wollte?« Ich lese gerade »Das unsichtbare Visier« von Otto Bonhoff und Hermann Schauer. Bei den Äußerungen von Frau Rademacher zu der Frage von Achim Detjen zur Meinung der Menschen nach einer Korrektur der Geschichte (Ergebnis Zweiter Weltkrieg) ist eine mögliche Ursache erkennbar. Sie sagt: »Die anderen (also die einfachen Menschen) ... Da macht man sich leider wenig Gedanken über die Zukunft. Leben wollen sie. Jagd nach dem Mammon. Gut essen und trinken. Anschaffen ... Wer da und wie regiert, ist ihnen gleichgültig, wenn nur die Lohntüte prallgefüllt ist. Sie sind immer mitgelaufen, sie laufen auch weiter mit. Diese Masse lässt sich manipulieren wie eh und je.« Gut, im Buch sind die Wessis gemeint, doch nach dem schmählichen Verrat der übergroßen Mehrheit der DDR-Menschen an ihrer Heimat, mir persönlich ist kein solches Geschichtsbeispiel bekannt, kann man dies gut und gerne auch auf die Frauen und Männer der DDR anwenden. PS: Ich wage zu behaupten: Wenn Frau/Mann wieder schreit: Wollt ihr den totalen Krieg? Und ihr bekommt, was ihr wollt! – Schreit man auch: Ja! Natürlich mit großen Bauchschmerzen. Diese Linke macht es doch allen vor. Jede Sauerei wird mitgemacht. Aber immer mit großen Bauchschmerzen. Bis hin zum Krieg.

Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.10.2020.
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