Leserbrief zum Artikel Geschichte des Balkans: Das vergessene Lager
vom 29.05.2020:
Ungeschriebene Geschichte
Die Geschichte des Balkans – wer hat sie wirklich schon geschrieben? Wer hat sie zur Kenntnis genommen, wem ist sie bewusst? Wer begreift den langen Leidensweg dieser Region, deren Bevölkerung für Großmachtinteressen gnadenlos geopfert wurde? Zu Kroatien sind zwei Bücher erschienen, die dem Anspruch auf Wahrheit eher gerecht werden und deshalb zur Lektüre empfohlen werden können: Der Autor Djuro Zatezalo sammelte in »... denn Sie wussten, was sie taten« Augenzeugenberichte über den Serbozid im »unabhängigen Staat Kroatien« 1941–1945. Vladimir Umeljic widmete dem Begriff des Genozids in seinem einleitenden Begleittext längere Erläuterungen. Umeljic publizierte 1994 selbst zu »Besatzungszeit und Genozid in Jugoslawien 1941–45« und widmete das Buch »allen unschuldigen serbischen Opfern des unsinnigen Genozids und allen unschuldigen kroatischen und muselmanischen Opfern der blinden Rache in Jugoslawien 1941–1945 sowie allen anderen Opfern des menschlichen Wahnsinns, der immer wieder das Gebot der Nächstenliebe in Vergessenheit geraten lässt«. Mira Radojevic und Ljubodrag Dimic publizieren 2014 zur tragischen Geschichte Serbiens im Großen Krieg 1914–1918. In der Einleitung äußern sie die Hoffnung, dass die Stimme der Historiker in der Öffentlichkeit zu hören sein und nicht durch politische Interessen der Machtzentren erdrückt werde, die das historiographische Bild des Ersten Weltkriegs ändern wollten. Serbien ging aus dem Ersten Weltkrieg als Sieger hervor. Das scheint dem Land nicht verziehen zu werden. Der Sieg 1918 blieb wohl ein Stachel im Fleisch der »humanitären« unmenschlichen Kommandogeber 1999. Auf dem Balkan herrscht heute nur sehr oberflächliche Ruhe. Von Frieden kann man nicht sprechen. Wer würde sich auch darum bemühen? Wer hätte Interesse daran?
Veröffentlicht in der jungen Welt am 29.05.2020.