Leserbrief zum Artikel Coronakrise: EU in der Krise
vom 02.04.2020:
Systemrelevanz
In dieser weltweiten Krise liegen nicht nur die besonders betroffenen Opfer des Coronavirus, um ihr Überleben kämpfend, an den Beatmungsgeräten. Nein, auch unsere Wirtschaft muss »beatmet« werden. Auf dem Höhepunkt der Krise müssen möglicherweise, so wie es in unseren Nachbarländern bereits geschieht, Menschen triagiert werden. Dies bedeutet, dass sie zum Tode durch unterlassene oder eingestellte Hilfeleistung verurteilt werden. Verurteilt wegen eines ohnmächtigen Gesundheitssystems, das unter der Maxime von Wettbewerb und Gewinnoptimierung bereits vor der Krise an die Grenze seiner Belastbarkeit gebracht wurde. In diesen Zeiten, in denen es um das Ganze, um das Überleben geht, sind Kooperation und Solidarität gefragt. Wettbewerb und Profitmaximierung sind kontraproduktiv. Wenn eine überlebenswichtige Atemmaske auf dem heiß umkämpften freien Markt mittlerweile über 13 Euro kostet (vor Corona übrigens wenige Cent), dann ist dies nichts weiter als die Umwandlung krimineller Energie in maximal gewinnbringende Geschäftstätigkeit. Übrigens, todbringende Marktmechanismen gibt es schon lange. Denken wir beispielsweise an die erfolgreiche Geschäftstätigkeit von Börsen, Rüstungsindustrie, industrieller Nahrungsmittelproduktion, die millionenfachen Tod in fernen Ländern verursachen. Aber da war und ist uns der Tod eben nicht so nah. Nutzen wir also die virusbedingt reichlich vorhandene Zeit zum Blick in die Zukunft. Machen wir endlich Schluss mit neoliberalem Wahnsinn, mit ungezügeltem Wachstum und Wohlstand. Besinnen wir uns auf das, was wir zu einem guten Leben und (auch weltweitem) Überleben unbedingt brauchen. Zur Zeit staunen wir über das unglaubliche Blau des Himmels und können den Frühling wieder riechen, weil die Luft rein ist. Tagtäglich erleben wir an vielen Orten die tröstende und ermutigende Auferstehung (Ostern!) von Empathie und Solidarität. Und in dieser Zeit der offenen Fragen wissen wir mittlerweile sehr sicher, dass die überlebensnotwendige Systemrelevanz ganz überwiegend unterbezahlt und weiblich ist.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 02.04.2020.