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Leserbrief zum Artikel Gedenken an Opfer der Novemberpogrome vom 09.11.2019:

Zufälle deutscher Geschichte

Aufgrund des endlosen propagandistischen Trommelfeuers zu »Nine eleven ’89« liegen bei mir die Nerven blank. Daher löste der kommentarlose Nachdruck der sehr fragwürdigen Erklärung des Fraktionsvorstands der Pseudo-Linken bei mir einen besonders heftigen Schreck aus. Dieses erneute ekelhafte Anbiedern bei den anderen Akteuren des parlamentarischen Flohzirkus (»Demokratie«) und widerliche Betteln um Belohnung ihres grenzenlosen Opportunismus durch Aufnahme in die politische Kaste (und Zulassen an die Tröge von Macht und Reichtum) bestätigt doch nur, dass diese Schleudertruppe nur eine Variante der Inkarnation des politischen Verrats ist, der Sozialdemokratie. Erschrocken bin ich wegen der Befürchtung, dieses völlig distanzlose »Abschreiben« könnte anzeigen, dass jetzt auch die jW auf diese Linie einschwenkt! Bitte befreit mich von dieser Furcht, ich möchte nicht auch noch meine wichtigste Infoquelle verlieren.

PS: Ich hänge meine Meinung zum 9. November in Deutschland an, weil die leider den Umfang eines Leserbriefes sprengt.

Zufälle der deutschen Geschichte

Während der letzten Jahrzehnte deutscher Geschichte taucht öfter ein symbolhaftes Datum auf: der 9. November. Kennzeichnend für die Deutschen ist, dass er für gravierende Niederlagen und Misserfolge steht. Der 9. November ist der Tag des großen Scheiterns in Deutschland – einfacher: Michel Heßling hat noch jede historische Chance vergeigt!
Am 9.11.1848 wurde der Abgeordnete Robert Blum der Frankfurter Nationalversammlung in Wien standrechtlich erschossen. Das steht symbolisch für das Scheitern der zweiten bürgerlichen Revolution in Großdeutschland, weil die deutsche Bourgeoisie schon zu feige war, mit den politischen Repräsentanten des Junkertums zu brechen – die erste frühbürgerliche unterlag den deutschen Fürsten, und weil die deutschen Bürger die aufständischen Bauern verrieten – wohl damals schon aus schwächebedingter Feigheit.
Am 9.11.1918 begann die bürgerlich-demokratische Revolution in Kleindeutschland (ohne Österreich), deren sozialistische Implikationen sofort von den Sozialimperialisten und kaiserlichen Generälen liquidiert wurden. Damit blieben auch ihre im Kern bürgerlichen Ansätze genau solche und stecken. Diesmal verriet die verbürgerlichte Sozialdemokratie die revoltierenden Volksmassen. Die demokratischen Resultate der Novemberrevolution wurden dann 1933 kassiert.
Der 9.11.1923 war das Menetekel der heraufziehenden faschistischen terroristischen Regierungsform der kriselnden bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland.
Das Schanddatum 9.11.1938 zeigte der ganzen Welt, dass die bürgerlichen Zivilisierungsbemühungen unter der Losung Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit am deutschen Untertanen abgeperlt waren. Bei diesen staatlich organisierten Pogromen wurden dem deutschen Mob die letzten Hemmungen ausgetrieben, ihre Mitmenschen zu ermorden. Nur Monate später marschierten die Deutschen stramm unter den Hakenkreuzfahnen in die mittelalterliche Barbarei. Krieg wie Auschwitz stehen für industriemäßig und staatlich organisiert betriebenen Massenmord – und den haben eben nicht nur die Herren Hitler, Göring, Goebbels usw. exekutiert, sondern Millionen der verkommenen Deutschen.
Mit dem provokativen Transparent »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren« begann am 9.11.1967 in Westdeutschland das Aufbegehren der studentischen Jugend gegen die faschistische Vätergeneration. Die Reaktion des Gestapohilfswilligen Prof. Spuler: »Sie gehören alle ins KZ!« zeigte, dass sowohl Zielgruppe wie Inhalt getroffen waren. Leider blieb diese Rebellion eine taube Blüte, weil die sie leitenden Kritische Theorie und der Anarchismus nur das Ablehnen begründeten, nicht eine Alternative und den Weg dorthin stellten. So verlief sich die Rebellion in individuellem Terror, der zumindest bewies, dass er nicht zum Fanal zur Revolution taugt, sondern von den Herrschenden wärmstens begrüßter Vorwand war, den Repressionsmoloch Staat (BRD) weiter auszubauen.
Der 9.11.1989 symbolisierte das Scheitern des sozialistischen Versuchs Deutsche Demokratische Republik. Das erbärmliche Kapitulieren des ersten Arbeiter- und Bauernstaates und seiner führenden Partei vor dem massenhaft aufmuckenden Lumpenkleinbürger zeigt doch nur, wie tief verkommen erneut sowohl die Arbeiterklasse wie ihre Partei waren.
Die Wahl des »traurigen Monats November« durch Heine zum Einstieg in seine Bilanz »Deutschlands. Ein Wintermärchen« von 1844 (!) ist ein sehr schönes Beispiel höchster künstlerischer Genialität. Hier spürt eine große Seele den Grundzug der deutschen Geschichte und verleiht ihm in der Metapher vom dunklen, trüben, depressiven Nebeltag stimmigen Ausdruck. Genauso genial das Schlussbild: die Zukunft liegt im Nachtstuhl der Schutzgöttin der Hamburger Fraktion der Geldsäcke, die dazumal wesentlich die Geschicke Deutschlands bestimmten. Die von Heine gewitterten Miasmen fanden ihren katastrophalen Ausbruch, als die deutschen Geldsäcke den Faschisten die Herrschaft über die Deutschen übertrugen.
In diesen Zufallsdaten erscheint eine Notwendigkeit der Geschichte der Deutschen: Sie verlief asynchron zur Weltgeschichte. Deshalb kamen die ohnehin nur zaghaften und halbherzigen Aktionen Michel Heßlings entweder zu früh oder zu spät und scheiterten in historischen Katastrophen.
Dr. Karl Melzer, Döbeln
Veröffentlicht in der jungen Welt am 12.11.2019.
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