Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Gegründet 1947 Freitag, 19. April 2024, Nr. 92
Die junge Welt wird von 2767 GenossInnen herausgegeben
Jetzt zwei Wochen gratis testen. Jetzt zwei Wochen gratis testen.
Jetzt zwei Wochen gratis testen.

Leserbriefe

Liebe Leserin, lieber Leser!

Bitte beachten Sie, dass Leserbriefe keine redaktionelle Meinungsäußerung darstellen. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zur Veröffentlichung auszuwählen und zu kürzen. Leserbriefe sollten eine Länge von 2000 Zeichen (etwa 390 Wörter) nicht überschreiten. Kürzere Briefe haben größere Chancen, veröffentlicht zu werden. Bitte achten Sie auch darauf, dass sich Leserbriefe mit konkreten Inhalten der Zeitung auseinandersetzen sollten. Ein Hinweis auf den Anlass Ihres Briefes sollte am Anfang vermerkt sein (Schlagzeile und Erscheinungsdatum des betreffenden Artikels bzw. Interviews). Online finden Sie unter jedem Artikel einen Link »Leserbrief schreiben«.

Leserbrief zum Artikel Ribbentropp-Molotow-Pakt: Atempause vom 23.08.2019:

Anders verlaufen als lange geplant

Zu Geoffrey Roberts’ Text über den Hitler-Stalin-Pakt hier einige Hinweise. Für einen Leserbrief ist diese Aufzählung natürlich zu lang, aber möglicherweise gibt es einen Historiker, der bereit ist, tradierte Interpretationen zu hinterfragen und systematisch verschwiegene Tatsachen und Zusammenhänge zu berücksichtigen.
Der Pakt hat nicht nur eine Atempause bewirkt, sondern zu einem völlig anderen als dem von seinen Hintermännern beabsichtigten Krieg geführt.
Schon der Einsatz von militärischen Verbänden aus 14 Staaten im »Russischen Bürgerkrieg« ist ein Hinweis darauf, dass bestimmte Kreise sich nach 1917 mit dem Verlust der Kontrolle über russische Rohstoffquellen nicht abfinden wollten. Da diese Intervention nur Teilerfolge (Finnland, Teile der Ukraine, Bessarabien etc.) brachte, insgesamt aber nicht erfolgreich war, wurden (mit großem Kapital- und Medieneinsatz) in zahlreichen Staaten reaktionäre/faschistische Regime unterstützt und/oder aufgebaut, um den misslungenen Versuch mit stärkeren Kräften und besser koordiniert wiederholen zu können.
München 1938, als Beschwichtigungspolitik interpretiert, vernebelt den Umstand, dass die Tschechische Republik eine unerwünschte Schwachstelle im Kordon reaktionär/faschistoid und faschistisch regierter Staaten von Finnland bis zur Türkei (und auch in Asien) an den Grenzen zur Sowjetunion bildete. Die Auslieferung der tschechischen Rüstungsindustrie an Nazideutschland lässt sich zwar als Folge grenzdebiler Politik einer ahnungslosen Öffentlichkeit verkaufen, ist aber ein deutlicher Hinweis auf ein planmäßiges Vorgehen. Die Hitler nunmehr zur Verfügung stehende tschechoslowakische Rüstungsindustrie hatte die dreifache Kapazität der italienischen, nach dem Anschluss Österreichs eine weitere große Chance der extremen Aufrüstung (z. B. waren die tschechischen Panzer im Frankreich- und Balkanfeldzug wesentlich effizienter als die damaligen deutschen Typen, die Fahrgestelle wurden mit verschiedenen Aufbauten und unterschiedlicher Bewaffnung bis Kriegsende eingesetzt). Auch dass ohne die effiziente Vorarbeit der Weimarer Republik die Wehrmacht nach 1933 nicht so schnell auf den modernsten Stand zu bringen war und dass die Geheimdienste aller Länder die Augen sehr fest zukneifen mussten, um das zu übersehen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.
Ich sehe den Grund für die Kriegserklärung (GB, Frankreich) im Hitler-Stalin-Pakt und als »Ordnungsruf« an den Gefreiten. Der deutsche Überfall auf Polen dürfte als Kriegsgrund vorgeschoben sein. Exakt zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses stand nämlich die 6. Japanische Armee nach ihrem Angriff auf die Mongolische Volksrepublik kurz vor der Vernichtung durch die Rote Armee (Chalchin Gol). Und da unterschreibt dieser Österreicher einen Nichtangriffspakt, statt der UdSSR eine zweite Front aufzuzwingen. Japan hat den strategischen Hintergrund (von Hitlers »Verrat«) sofort und früher als die Westmächte begriffen , folgerichtig seine Regierung umgebildet und sich auf eine pazifische Expansion orientiert. Ebenso folgerichtig begannen die USA erst ab diesem Zeitpunkt (und nicht etwa beim Überfall auf China oder die Mongolei) mit wirtschaftlichem Druck und Sanktionen.
Frankreich und England greifen 1939 die an der Westfront haushoch unterlegene Wehrmacht nicht an, stellen aber Truppenkontingente für Finnland und Iran/Irak auf. In diesem Zusammenhang ist auch die »Affäre« Tyler Kent zu sehen. Der US-Amerikaner, Beamter des Chiffrendienstes der US-Botschaft in London, sandte wöchentlich via italienische Botschaft die geheime Korrespondenz zwischen US- und GB-Regierung im Klartext nach Berlin (gefunden wurden später ca. 1.500 Kopien sonst undechiffrierbarer Telegramme). »Entlarvt« wurde Kent erst, als nach dem Desaster in Frankreich der deutsche Alleingang endgültig klar wurde. Kent hatte kein Motiv, wurde nur eingekastelt und gleich nach dem Krieg freigelassen, während Spione, die wegen erwiesener Unfähigkeit nichts verraten konnten, hingerichtet wurden. Das stinkt nach geheimem US/GB-Hintergrund und Absicht. Weitere Hinweise sind der Hess-Flug, NS-Kontakte in GB, die Spekulation aller Beteiligten (vom Gröfaz über die Herrn des 20. Juli bis Dönitz) auf die westalliierte Karte usw.
Der Gefreite blieb unfolgsam, will seinen eigenen Krieg führen und ruiniert damit das langfristig vorbereitete Kriegskonzept. Offensichtlich hatten die deutschen Hintermänner Hitlers andere Pläne als seine anglo-amerikanischen. Der lange vorbereitete Angriff vom Norden (Finnland), Westen (Deutschland, Polen, Rumänien, Bulgarien, Türkei), Osten (Japan, USA) und Süden (GB, Frankreich) gegen die UdSSR wurde nicht durchgeführt, weil den Japanern klar wurde, dass Deutschland als Verbündeter unzuverlässig ist und sie ohne Seeherrschaft und Rohstoffbasis ihre kontinentale Beute nie dauerhaft gegen USA/GB sichern können. Den Deutschen war klar, dass mit einer intakten französisch/englischen Armee im Rücken und einer englischen Flotte vor Baku die in der Sowjetunion kämpfende Wehrmacht nicht allzuviel von der Beute für Deutschland würde sichern können.
Ehe das anglo-amerikanische Kapital dem deutschen die russische Beute und seinem Helfer Nordafrika/Orient (und damit extreme wirtschaftliche Macht) allein überlässt, unterstützt es lieber (sehr halbherzig – z. B. Verzögern der Invasion etc.) den bösen Stalin und macht auch gleich den asiatischen Konkurrenten um den pazifischen Raum fertig. So ganz nebenbei sichert man sich (damals GB, Vorwand: Lend-lease-Lieferungen an Russland) durch einen kleinen Einmarsch die persischen Ölfelder. Insgesamt scheiterte aber, nicht zuletzt durch den Hitler-Stalin-Pakt, der lange vorbereitete große Raubzug an den unterschiedlichen Interessen der Räuber.
Ein derartiger Misserfolg in der Durchführung globaler Pläne sollte nicht mehr vorkommen, also mussten nach diesem völlig falsch gelaufenen Krieg Japan, Deutschland (und jede Menge anderer Staaten) auf Vordermann gebracht werden. Deshalb wurden in der BRD systematisch Gestapo-, SS-Leute und schwerst belastete Kriegsverbrecher in wichtige Positionen geschoben (BKA, Verfassungsschutz, Justiz …), um den neuen »demokratischen« Staat auf Linie zu halten/wieder zu bringen – eine ähnliche Vorgehensweise ist für Japan und Italien belegt. Weiters dienten die diversen »Atlantikbrücken«, die NATO, ihre Geheimarmeen (Stay behind/Gladio), Medienkonzerne usw. der Sicherung gegen ein erneutes Aufmucken verschiedener Länder.
Aber schon während des Krieges wurde (z. B.) in Griechenland nach dem Abzug der Deutschen von englischen Truppen die griechische Widerstandsbewegung liquidiert und die mit Hitler verbündet gewesene Clique als »demokratische Regierung« installiert, wurden mit US-Hilfe Teile der ukrainisch-faschistischen Truppen (nach deren Rückzug in die Karpaten) vor dem Zugriff der Roten Armee gerettet usw. Der »Kalte Krieg« begann nicht erst nach dem heißen …
Otto Kustka, A-Litschau

Kommentar jW:

Zu dem Leserbrief merkte Reinhard Lauterbach an:

»Otto Kustka schreibt: ›Den Deutschen war klar, dass mit einer intakten französisch/englischen Armee im Rücken und einer englischen Flotte vor Baku ...‹ Wie bitte? Sollten die britischen Schiffe wie in Werner Herzogs Film über die persischen Berge gezogen werden? So wie bei Juristen bei Zweifeln immer ein Blick ins Gesetzbuch hilft, so bei geostrategischen Spekulationen ein Blick auf die Landkarte.«

Veröffentlicht in der jungen Welt am 06.09.2019.
Weitere Leserbriefe zu diesem Artikel:
  • Zeitgemäßer Beitrag

    Ein insgesamt sehr guter Beitrag! Unheimlich »zeitgemäß«! Wo ich Probleme sehe: Roberts schreibt über die zwei Geheimabkommen der UdSSR mit Nazideutschland vom 23. August und 28. September 1939 – letz...
    Volker Wirth, Berlin