Leserbrief zum Artikel Sahra Wagenknecht: Eine Lanze für den Markt
vom 18.05.2019:
Dogmatismus überwinden
Wenn ich in der jungen Welt einen Artikel von Nico Popp sehe, dann will ich den unbedingt lesen. Sein Name bürgt mir für Qualität. Nur, was er am 18./19. Mai schrieb, hat mich nicht überzeugt. Das mag an mir liegen. Ich bin schließlich ein politischer Laie und mehr aus dem Gefühl als aus Verstand und Wissen ein Kommunist. Doch eben solche Leute wie mich gilt es zu überzeugen. Ich denke, wenn ich aufschreibe, was mir nicht gefällt, führt das vielleicht zu einer Verbesserung oder Veränderung der Argumentation der Grenzgegner.
Nico Popp beginnt mit einer Kritik Sahra Wagenknechts. Daran habe ich nichts auszusetzen. Sahra hat mir immer imponiert, und ich habe gehofft, dass sie Die Linke auf einen sozialistischen Kurs bringen wird. Diese Hoffnung habe ich leider aufgegeben, schweren Herzens.
Danach behandelt Nico Popp das leidige Thema der Immigration, der offenen Grenzen. Sahra wird mit den Worten zitiert: »Offene Grenzen für alle sind weltfremd.« Es tut mir leid, so sehe ich das auch. Wir sind eine Zehnprozentpartei. Die Menschen, die wir überzeugen müssen, wenn wir den Sozialismus aufbauen, wollen keine unbeschränkte Einwanderung. Dieser Streit spaltet unsere Partei. Was nutzt er? Lassen wir das Streiten, vertagen wir das Problem auf die Zeit des Aufbaus des Sozialismus. Gegenwärtig müssen wir zuerst und vor allem die Mehrheit der Bürger davon überzeugen, dass Kapitalismus schlecht und Sozialismus gut ist. Da haben wir genug zu tun. Die DDR hatte übrigens auch keine offenen Grenzen.
Nico Popp weist jedoch darauf hin, dass Marx, Engels und Lenin für offene Grenzen waren. Unausgesprochen heißt das: Wir Marxisten dürfen nicht anderer Meinung sein. Ist das wirklich so? Da sehe ich ein großes Problem, es heißt Dogmatismus. Wir haben schon immer gewusst, dass wir keine Dogmatiker werden dürfen. Haben wir uns daran gehalten?
Die Zitate, auf die sich Popp beruft, stammen aus den Jahren 1882 (Engels) und 1913 (Lenin). Seither hat sich die Welt auf unvorhersehbare Weise verändert. Eisenbahnen, Automobile, Flugzeuge. Mobile Telefone, künstliche Intelligenz, Antibabypillen und vieles andere mehr bestimmen unseren Alltag. Die Arbeiter des Jahres 2019 sind nicht mehr die »Verdammten dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt« von 1882 oder 1913. Ihre Tätigkeit ähnelt mehr derjenigen der Angestellten. Ihr Bewusstsein ist ein anderes geworden. Sie rechnen sich nicht mehr zu den Proletariern, die Marx im Kommunistischen Manisfest ansprach.
Auch die Kapitalisten haben sich verändert. Moderne Soziologen wie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, stellen gravierende Veränderungen fest. Bei ihm heißt es u. a.:
»In kaum einem anderen Land bleibt Arm so oft arm und Reich so oft reich – über Generationen hinweg.«
»Deutschlands soziale Marktwirtschaft, wie wir sie über sieben Jahrzehnte gekannt haben und in der die soziale Sicherheit aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war, existiert nicht mehr. In der deutschen Marktwirtschaft wird mit gezinkten Karten gespielt.«
»Die OECD schätzt, dass durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um sechs Prozent geringer ist.«
»Dieser Verteilungskampf verstärkt sich schon heute durch eine Wirtschaftspolitik, die immer stärker daraus ausgerichtet ist, Einkommen, Vermögen und Privilegien den einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen zuzuteilen, ohne das langfristige Interesse der Gesellschaft als Ganzes zu wahren.«
»Auch für unsere derzeit anscheinend so stabile und blühende Volkswirtschaft stellt eine wachsende Ungleichheit ein großes Dilemma dar: sie teilt das Land immer stärker in zwei auseinanderdriftende Gruppen, unter denen der Verteilungskampf immer stärker toben wird. Langfristig treibt sie das Land – wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen sollten – auf die Zerreißprobe zu.«
»Ungleichheit reduziert das Wirtschaftswachstum.«
»Nirgendwo werden die persönlichen Entwicklungschancen so sehr von der Herkunft bestimmt.«
Das sieht nach einem neuen Feudalismus aus.
Neu ist schließlich: Der Klimawandel bedroht Tiere, Pflanzen und letztlich das menschliche Leben auf der Erde. Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR und die Grundwertekommission der SPD haben in ihrer Erklärung »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« schon 1987 gewusst: »Unsere weltgeschichtlich neue Situation besteht darin, dass die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen kann.« Weiter heißt es dann: »Ein politisches Denken und Handeln in den internationalen Beziehungen, das der neuartigen Bedrohung der Menschheit angemessen ist, muss vor allem dadurch gekennzeichnet sein, dass sie
1.) die Bannung der nuklearen Gefahr,
2.) die Sicherung des Lebens und die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle,
3.) die Erhaltung der Biosphäre und die Überwindung der ökologischen Krise,
4.) die Bekämpfung des Hungers, den Abbau der Verschuldung und der wirtschaftlichen … in den Entwicklungsländern
als gemeinsame Menschheitsaufgaben versteht und anerkennt, die im gemeinsamen Interesse der Menschen gemeinsam angepackt werden müssen.«
Darf man in dieser »weltgeschichtlich neuen Situation« wirklich davon ausgehen, dass die Klassiker, das, was sie vor mehr als hundert Jahren geschrieben haben, heute genauso wiederholen würden? Ich glaube das nicht. Ich fürchte, vor dem Studium der Klassiker vernachlässigen wir das Studium der Gegenwart.
Die Völkerwanderungen, die Marx, Engel und Lenin erlebten, waren ganz andere als diejenigen, die uns heute Probleme bereiten. Zu Engels Zeiten fuhren deutsche Auswanderer per Dampfschiff nach Nordamerika. Ihre Personalien waren registriert, und das Land, in das sie kamen, war riesig, schwach besiedelt, die Indianer waren »heidnische Feinde«.
Zu Lenins Zeiten (1913) kamen polnische Katholiken nach Deutschland und leisteten in Bergbau, Industrie und Landwirtschaft Arbeit, die dringend benötigt wurde. Kann das mit der heutigen Situation verglichen werden? Bangten Deutsche damals, eine fremde Kultur würde ihre eigene Lebensweise bedrohen? Und die Länder, die die Emigranten damals verließen, lagen nicht in Schutt und Asche, waren nicht entvölkert, warteten nicht dringend auf den Wiederaufbau. Müssen wir nicht auch an diese Länder denken? Sie brauchen dringend Menschen für den Aufbau.
Nach meiner Meinung müssen wir in dieser »weltgeschichtlich neuen Situation« die Arbeit der Klassiker fortsetzen, dürfen nicht stehenbleiben, dürfen nicht nur zitieren. Wir müssen den Dogmatismus überwinden.
Nico Popp beginnt mit einer Kritik Sahra Wagenknechts. Daran habe ich nichts auszusetzen. Sahra hat mir immer imponiert, und ich habe gehofft, dass sie Die Linke auf einen sozialistischen Kurs bringen wird. Diese Hoffnung habe ich leider aufgegeben, schweren Herzens.
Danach behandelt Nico Popp das leidige Thema der Immigration, der offenen Grenzen. Sahra wird mit den Worten zitiert: »Offene Grenzen für alle sind weltfremd.« Es tut mir leid, so sehe ich das auch. Wir sind eine Zehnprozentpartei. Die Menschen, die wir überzeugen müssen, wenn wir den Sozialismus aufbauen, wollen keine unbeschränkte Einwanderung. Dieser Streit spaltet unsere Partei. Was nutzt er? Lassen wir das Streiten, vertagen wir das Problem auf die Zeit des Aufbaus des Sozialismus. Gegenwärtig müssen wir zuerst und vor allem die Mehrheit der Bürger davon überzeugen, dass Kapitalismus schlecht und Sozialismus gut ist. Da haben wir genug zu tun. Die DDR hatte übrigens auch keine offenen Grenzen.
Nico Popp weist jedoch darauf hin, dass Marx, Engels und Lenin für offene Grenzen waren. Unausgesprochen heißt das: Wir Marxisten dürfen nicht anderer Meinung sein. Ist das wirklich so? Da sehe ich ein großes Problem, es heißt Dogmatismus. Wir haben schon immer gewusst, dass wir keine Dogmatiker werden dürfen. Haben wir uns daran gehalten?
Die Zitate, auf die sich Popp beruft, stammen aus den Jahren 1882 (Engels) und 1913 (Lenin). Seither hat sich die Welt auf unvorhersehbare Weise verändert. Eisenbahnen, Automobile, Flugzeuge. Mobile Telefone, künstliche Intelligenz, Antibabypillen und vieles andere mehr bestimmen unseren Alltag. Die Arbeiter des Jahres 2019 sind nicht mehr die »Verdammten dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt« von 1882 oder 1913. Ihre Tätigkeit ähnelt mehr derjenigen der Angestellten. Ihr Bewusstsein ist ein anderes geworden. Sie rechnen sich nicht mehr zu den Proletariern, die Marx im Kommunistischen Manisfest ansprach.
Auch die Kapitalisten haben sich verändert. Moderne Soziologen wie Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, stellen gravierende Veränderungen fest. Bei ihm heißt es u. a.:
»In kaum einem anderen Land bleibt Arm so oft arm und Reich so oft reich – über Generationen hinweg.«
»Deutschlands soziale Marktwirtschaft, wie wir sie über sieben Jahrzehnte gekannt haben und in der die soziale Sicherheit aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war, existiert nicht mehr. In der deutschen Marktwirtschaft wird mit gezinkten Karten gespielt.«
»Die OECD schätzt, dass durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990er Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um sechs Prozent geringer ist.«
»Dieser Verteilungskampf verstärkt sich schon heute durch eine Wirtschaftspolitik, die immer stärker daraus ausgerichtet ist, Einkommen, Vermögen und Privilegien den einflussreichsten gesellschaftlichen Gruppen zuzuteilen, ohne das langfristige Interesse der Gesellschaft als Ganzes zu wahren.«
»Auch für unsere derzeit anscheinend so stabile und blühende Volkswirtschaft stellt eine wachsende Ungleichheit ein großes Dilemma dar: sie teilt das Land immer stärker in zwei auseinanderdriftende Gruppen, unter denen der Verteilungskampf immer stärker toben wird. Langfristig treibt sie das Land – wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen sollten – auf die Zerreißprobe zu.«
»Ungleichheit reduziert das Wirtschaftswachstum.«
»Nirgendwo werden die persönlichen Entwicklungschancen so sehr von der Herkunft bestimmt.«
Das sieht nach einem neuen Feudalismus aus.
Neu ist schließlich: Der Klimawandel bedroht Tiere, Pflanzen und letztlich das menschliche Leben auf der Erde. Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der DDR und die Grundwertekommission der SPD haben in ihrer Erklärung »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« schon 1987 gewusst: »Unsere weltgeschichtlich neue Situation besteht darin, dass die Menschheit nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen kann.« Weiter heißt es dann: »Ein politisches Denken und Handeln in den internationalen Beziehungen, das der neuartigen Bedrohung der Menschheit angemessen ist, muss vor allem dadurch gekennzeichnet sein, dass sie
1.) die Bannung der nuklearen Gefahr,
2.) die Sicherung des Lebens und die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle,
3.) die Erhaltung der Biosphäre und die Überwindung der ökologischen Krise,
4.) die Bekämpfung des Hungers, den Abbau der Verschuldung und der wirtschaftlichen … in den Entwicklungsländern
als gemeinsame Menschheitsaufgaben versteht und anerkennt, die im gemeinsamen Interesse der Menschen gemeinsam angepackt werden müssen.«
Darf man in dieser »weltgeschichtlich neuen Situation« wirklich davon ausgehen, dass die Klassiker, das, was sie vor mehr als hundert Jahren geschrieben haben, heute genauso wiederholen würden? Ich glaube das nicht. Ich fürchte, vor dem Studium der Klassiker vernachlässigen wir das Studium der Gegenwart.
Die Völkerwanderungen, die Marx, Engel und Lenin erlebten, waren ganz andere als diejenigen, die uns heute Probleme bereiten. Zu Engels Zeiten fuhren deutsche Auswanderer per Dampfschiff nach Nordamerika. Ihre Personalien waren registriert, und das Land, in das sie kamen, war riesig, schwach besiedelt, die Indianer waren »heidnische Feinde«.
Zu Lenins Zeiten (1913) kamen polnische Katholiken nach Deutschland und leisteten in Bergbau, Industrie und Landwirtschaft Arbeit, die dringend benötigt wurde. Kann das mit der heutigen Situation verglichen werden? Bangten Deutsche damals, eine fremde Kultur würde ihre eigene Lebensweise bedrohen? Und die Länder, die die Emigranten damals verließen, lagen nicht in Schutt und Asche, waren nicht entvölkert, warteten nicht dringend auf den Wiederaufbau. Müssen wir nicht auch an diese Länder denken? Sie brauchen dringend Menschen für den Aufbau.
Nach meiner Meinung müssen wir in dieser »weltgeschichtlich neuen Situation« die Arbeit der Klassiker fortsetzen, dürfen nicht stehenbleiben, dürfen nicht nur zitieren. Wir müssen den Dogmatismus überwinden.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 13.06.2019.