Debatte. Alternative der Solidarität
Von Heinz BierbaumDie von Rosa Luxemburg mit Bezug auf Friedrich Engels getroffene Aussage »Sozialismus oder Barbarei« erfolgte zwar in Zusammenhang mit den Schrecken des Ersten Weltkrieges1, hat aber nach wie vor aktuellen Bezug.
Nicht nur, daß auch heute noch Kriege imperialistischen Charakters geführt werden, im Zuge der kapitalistischen Entwicklung sind auch immer wieder soziale Errungenschaften, zivile und demokratische Rechte bedroht. »Sozialismus oder Barbarei« kann aber auch als ein Synonym für den grundlegenden Widerspruch kapitalistischer Entwicklung verstanden werden. Auf der einen Seite entwickelt die kapitalistische Produktionsweise die Produktivkräfte in bisher nie gekannter Weise, auf der anderen Seite werden Produktionsverhältnisse geschaffen, die der allgemeinen Nutzung der entwickelten Produktivkräfte im Wege stehen und ihre Entwicklung selbst behindern, ja sie sogar zerstörerisch werden lassen.
Während die Entwicklung der Wirtschaft, der Technik, des Wissens   überhaupt oder allgemeiner: die Beherrschung der Natur ein enorm hohes   Maß erreicht hat und die Produktivität so vorangetrieben wurde, daß ein   immer geringeres Quantum an Arbeit zur Befriedigung elementarer   menschlicher Bedürfnisse notwendig ist, ist ein großer Teil der   Menschheit unterversorgt, dem Hunger ausgeliefert, sind die sozialen   Probleme nicht gelöst, herrschen an vielen Orten der Welt Krieg und   Elend. Zugleich werden aber auch die Produktions- und damit   Existenzgrundlagen selbst unterminiert. Verwiesen sei auf die vielen und   gravierenden Schäden der Umwelt, auf die drohende Klimakatastrophe, die   Bedrohung durch die Atomtechnologie und durch eine Energiepolitik, die   wesentlich auf fossilen Brennstoffen beruht. Die soziale Polarisierung   nimmt gerade auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern zu. Die   Schere bei den Einkommen geht auseinander, die Verteilung der Vermögen   wird immer ungerechter. Wir sind weit entfernt von einer gleichmäßigen,   stabilen oder gar krisenfreien wirtschaftlichen und gesellschaftlichen   Entwicklung. Gerade die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise hat   eindrucksvoll die grundsätzliche Krisenanfälligkeit kapitalistischer   Entwicklung unter Beweis gestellt. Ihre Folgen sind keineswegs   überwunden, sondern manifestieren sich in der »Euro-Krise«, wobei es   sich letztlich nicht um eine Euro- oder gar Schuldenkrise, sondern um   Krise kapitalistischer Entwicklung handelt.
 
 Auf der anderen   Seite ist nicht zu leugnen, daß der Kapitalismus auch zivilisatorische   Tendenzen aufweist und damit – wenn auch in widersprüchlicher Form – zur   Entwicklung der Zivilgesellschaft beiträgt. Es ist ja nicht zuletzt das   Verdienst gerade der politischen Kräfte und Bewegungen, die Kritik am   Kapitalismus üben und für sozialistische Alternativen eintreten, ihm   Reformen abgetrotzt und so auch zu seinem Überleben beigetragen zu   haben. Auch in der jüngsten Krise war eine gewisse Lernfähigkeit   festzustellen, indem diese mit keynesianisch inspirierten   wirtschaftspolitischen Konzepten, d.h. mit öffentlichen   Konjunkturprogrammen, bekämpft wurde – also mit einer Politik, die   überhaupt nicht ins vorherrschende neoliberale Schema paßte. Die   grundsätzlichen Widersprüche, die letztlich aus der Ausrichtung der   wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung an der Verwertung   des Kapitals resultieren, sind damit jedoch nicht aufgehoben.   Insbesondere bleiben die strukturelle Überakkumulation und die dafür   charakteristische Dominanz des Finanzkapitals bestehen – und damit die   hohe Krisenanfälligkeit.   Sozialistische Perspektive Die Frage,   inwieweit die dem Kapitalismus innewohnenden zivilisatorischen Tendenzen   tragen und befördert werden können, konkretisiert sich aktuell in der   Frage nach dem Green New Deal. Gemeint ist damit ein umfangreiches   Programm der ökologischen Erneuerung im Rahmen bestehender   Produktionsverhältnisse. In der ökologischen Erneuerung werden neue   Wachstumspotentiale gesehen, die die kapitalistische wirtschaftliche   Entwicklung zumindest mit ökologischen Anforderungen in Einklang bringen   und zugleich eine neue Wirtschaftsdynamik entfalten sollen. So sehr mit   der ökologischen Erneuerung gerade auch wirtschaftliche   Entwicklungspotentiale verbunden sind, so werden aber dabei der   widersprüchliche Charakter der kapitalistischen Entwicklung und die   Schranken einer profitorientierten Wirtschaft verkannt. Eine   entscheidende Frage stellt dabei die Eigentumsfrage dar, die eben im   Rahmen der Konzeption des Green New Deal – zumindest wie er von den   Grünen vertreten wird – nicht gestellt wird. Solange die   Verwertungsbedürfnisse des Kapitals dominieren, werden weder die   sozialen Fragen gelöst noch die ökologischen Erfordernisse erfüllt   werden.
 
 Zwar spricht auch Die Linke von der Notwendigkeit der   ökologischen Erneuerung, doch ist dies erstens aufs engste mit der   sozialen Frage verbunden und zweitens in einen antikapitalistischen   Zusammenhang eingeordnet. Diese Orientierung findet sich auch in dem in   Erfurt verabschiedeten Grundsatzprogramm. Zwar stellt das Programm von   Erfurt durchaus in vielen Bereichen einen Kompromiß dar und ist   sicherlich auch nicht frei von Widersprüchen, doch weist es eine nicht   nur kapitalismuskritische, sondern im Kern eine antikapitalistische,   eine sozialistische Stoßrichtung auf. Erklärtes Ziel ist der Aufbau   einer »Gesellschaft des demokratischen Sozialismus (…), in der die   wechselseitige Anerkennung der Freiheit und Gleichheit jeder und jedes   Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung aller wird. Wir   kämpfen für einen Richtungswechsel der Politik, der den Weg zu einer   grundlegenden Umgestaltung der Gesellschaft öffnet, die den Kapitalismus   überwindet.«2 Ausdrücklich wird Bezug genommen auf das Kommunistische   Manifest und der darin enthaltenen Zielsetzung einer die Klassen und   Klassengegensätze überwindenden Gesellschaft. Und es wird kein Zweifel   daran gelassen, daß Deutschland eine Klassengesellschaft mit dem dafür   charakteristischen antagonistischen Klassengegensatz von Lohnarbeit und   Kapital ist. Um die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu   verändern ist es daher notwendig, die kapitalistischen   Eigentumsverhältnisse zu überwinden. »Eine entscheidende Frage   gesellschaftlicher Veränderung ist und bleibt die Eigentumsfrage (…) Die   Linke kämpft für die Veränderung der Eigentumsverhältnisse.«3 Konkret   geht es darum, »strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft (…) in   demokratische gesellschaftliche Eigentumsformen (zu) überführen (…) Die   Daseinsvorsorge, die gesellschaftliche Infrastruktur, die   Finanzinstitutionen und die Energiewirtschaft gehören in öffentliche   Hand und müssen demokratisch kontrolliert werden.«4 Einen besonderen   Stellenwert nimmt das Belegschaftseigentum ein – nicht nur, um den   Einfluß des Kapitals auf die Unternehmenspolitik zu brechen, sondern   auch, um eine breite Beteiligung der Beschäftigten selbst zu ermöglichen   und sie am Ertrag ihrer Arbeit teilhaben zu lassen. Es geht insgesamt   um eine »demokratische Wirtschaftsordnung, die die Marktsteuerung von   Produktion und Verteilung der demokratischen, sozialen und ökologischen   Rahmensetzung und Kontrolle unterordnet«.5
 
 Das Programm ist   weder ein traditionssozialistischer Rückfall, der die heutige Realität   kapitalistischer Entwicklung ignoriert, wie einige meinen, noch Ausdruck   eines sozialdemokratisch geprägten Reformismus. Es ist – wie gesagt –   in vielen Bereichen ein Kompromiß unterschiedlicher politischer   Auffassungen im Hinblick auf die Analyse der gesellschaftlichen   Entwicklung und der Ansatzpunkte zu ihrer Veränderung, doch kann an der   grundsätzlichen sozialistischen Perspektive kein Zweifel bestehen.   Antikapitalistische Reformpolitik   Die entscheidende Frage ist dabei die nach der Umsetzung, also der   politischen Strategie, wie man zu der angestrebten Gesellschaft des   demokratischen Sozialismus gelangen kann. Im Programm selbst ist von   einem »Transformationsprozeß« die Rede. So heißt es: »Die Linke kämpft   in einem großen transformatorischen Prozeß gesellschaftlicher   Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts.   Dieser Prozeß wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von   Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.«6   Derartige Reformprojekte beziehen sich auf die Arbeits- und   Lebensbedingungen mit Schwerpunkten in der sozialen Sicherheit und   Gerechtigkeit und einer aktiven Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik,   auf die Demokratisierung der Gesellschaft, auf den sozial-ökologischen   Umbau, die soziale Umgestaltung Europas sowie auf Frieden und Abrüstung.
 
   Dabei sind diese Reformschritte von der sozialistischen Zielsetzung   nicht abzukoppeln. Es handelt sich mithin um Reformpolitik in   antikapitalistischer Perspektive. Dennoch stellt sich die Frage nach der   Verbindung von eben diesen Reformschritten und der Zielsetzung des   Aufbaus der Gesellschaft des demokratischen Sozialismus als der   Alternative zur herrschenden kapitalistischen Gesellschaft. Diese Frage   kann durch das Programm selbst nicht ausreichend beantwortet werden. Sie   muß vielmehr im Rahmen der strategischen Festlegung linker Politik   konkretisiert werden. Programmatik und Strategie sind allerdings nicht   voneinander zu trennen, werden doch die strategischen Zielsetzungen   durch das Programm vorgegeben. Die Kritik, wie sie beispielsweise von   Andreas Wehr geäußert wird, wonach die strategische Orientierung fehle   und damit sozialistische Zielsetzungen und Reformschritte unverbunden   nebeneinander stünden, trifft in dieser Schärfe nicht zu. Auch kann man   nicht sagen, daß das Programm »in der Analyse (…) antikapitalistisch, in   der Strategie sozialreformerisch« sei.7 Denn damit wird ignoriert, daß   das entscheidende Bindeglied zwischen der unbestreitbaren   antikapitalistischen Stoßrichtung und der Zielsetzung des demokratischen   Sozialismus auf der einen Seite und konkreter Reformpolitik auf der   anderen Seite im Programm durchaus angegeben ist. Es ist die   Eigentumsfrage. Die Veränderung der kapitalistischen   Eigentumsverhältnisse ist entscheidend für die Veränderung der   Gesellschaft. Dabei ist die Eigentumsfrage durchaus komplex. Im Programm   selbst ist von einer Pluralität der Eigentumsformen die Rede, die auch   dem Privateigentum einen Stellenwert zuweist, ihm aber seine   strukturbestimmende Bedeutung nimmt. Völlig zu Recht wird die   Eigentumsfrage mit der Demokratiefrage verbunden, also die Frage nach   der demokratischen Beteiligung aufgeworfen – eine bislang allerdings   weder gelöste noch zureichend diskutierte und entwickelte Frage.
 
   Kein Zweifel, das Verhältnis von Reformpolitik und sozialistischer   Zielsetzung ist für die Bestimmung sozialistischer Politik von   wesentlicher Bedeutung. Damit wird im Grunde die alte Frage der   Arbeiterbewegung nach dem Verhältnis von Reform und Revolution   aufgeworfen. Dabei wird man heute jedoch kaum auf den »Hammerschlag der   Revolution, d.h. die Eroberung der politischen Macht durch das   Proletariat«8 verweisen können, wie dies Rosa Luxemburg in ihrer   vernichtenden Kritik an Bernstein formulierte. Allerdings war für Rosa   Luxemburg klar, daß »die Ergreifung der Staatsgewalt durch das   Proletariat (…) einen bestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen   Verhältnisse voraus (setzt)«.9 Die Antwort auf die Frage nach dem   Verhältnis von Reformpolitik und sozialistischem Ziel kann nicht mehr   die gleiche wie zu Beginn und im Verlauf des 20. Jahrhunderts sein,   sondern muß unter den heutigen Bedingungen des Finanzmarktkapitalismus   und ausdifferenzierter Klassenstrukturen gegeben werden. Richtig bleibt   allerdings, daß das Ziel des demokratischen Sozialismus sich nicht   einfach als Ergebnis von kleineren oder größeren Reformschritten ergibt.   Daraus kann freilich auch nicht der Schluß gezogen werden, auf   Reformschritte zu verzichten. Diese sind notwendig. So sehr Die Linke   auch konkrete Reformpolitik betreiben muß, so darf sie das Ziel des   Sozialismus weder aus den Augen verlieren noch es an das ferne Ende   eines Transformationsprozesses stellen. Es muß vielmehr dessen   integraler Bestandteil sein. In diesem Zusammenhang sei insbesondere   auch auf die Debatte um den Sozialismus im 21. Jahrhundert verwiesen,   die insbesondere durch die jüngeren Entwicklungen und Erfahrungen in   Lateinamerika befördert wurde.10   Hegemonie erringen Ein guter   Anknüpfungspunkt für eine Strategie der Linken unter heutigen   Bedingungen ist das Konzept der Hegemonie und des historischen Blocks,   wie dies von Antonio Gramsci entwickelt wurde. Danach ist für eine   Veränderung der Gesellschaft wesentlich, die intellektuell-kulturelle   Hegemonie zu erlangen, also damit das gesellschaftliche Denken und Klima   orientierend zu beeinflussen, und einen breiten Block sozialer Kräfte   für diese Veränderung zu schaffen.11
 
 So ist für die Strategie   der Linken entscheidend, inwieweit der neoliberalen Hegemonie eine   Alternative entgegengesetzt werden kann, die ihrerseits in der Lage ist,   hegemoniale Kraft zu entfalten. In der tiefen Finanz- und   Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 ebenso wie in der gegenwärtigen   »Euro-Krise« zeigt sich nicht nur die Brüchigkeit des neoliberalen   Modells, sondern es werden auch grundsätzliche Defizite kapitalistischer   Entwicklung deutlich. Bislang konnten die linken Kräfte in Europa davon   nur wenig profitieren, wobei allerdings der jüngste Wahlerfolg der   Izquierda Unida in Spanien oder aber auch die Umfragen in Griechenland   für die Linkskräfte Anlaß zur Hoffnung geben. In Deutschland dagegen hat   Die Linke an Zustimmung verloren. Dies hängt zum einen mit der   schwachen Verfassung der Partei zusammen, zum anderen aber auch mit dem   spezifischen Krisenverlauf in Deutschland. So hofft man aufgrund   ökonomischer Stärke, wie sie sich insbesondere in den Exporterfolgen –   ihrerseits erkauft durch Sozialabbau und eine miserable Lohnentwicklung –   manifestiert, und durch einen auch von den Gewerkschaften mehrheitlich   getragenen Anpassungskurs relativ unbeschadet durch die Krise zu kommen.   Diese Hoffnung ist jedoch höchst trügerisch, wenn man die Risiken einer   exportlastigen Wirtschaft und einen möglichen erneuten tiefen Einbruch   der Weltwirtschaft berücksichtigt. Denn schließlich sind die Ursachen,   die zur Krise geführt haben – die Umverteilung von unten nach oben, die   deregulierten Finanzmärkte und die Handelsungleichgewichte in Europa –   keineswegs beseitigt. Im Gegenteil. Durch die ökonomisch   kontraproduktive und sozial verheerende Sparpolitik werden die Probleme   verschärft. Bei aller Verunsicherung, die breite Bevölkerungsschichten   erfaßt hat, klammert sich doch eine Mehrheit an diese Hoffnung, oder   befürwortet einen nationalistisch geprägten Kurs – mit der Gefahr, daß   die politische Entwicklung stark nach rechts kippt.   »Profiteure zur Kasse!«   In dieser Situation ist Die Linke gefordert, eine politische   Alternative der Solidarität aufzuzeigen. Deshalb hat der Parteivorstand   beschlossen, die Euro-Krise zu einem Aktionsschwerpunkt zu machen, um   die inhaltlich bereits seit geraumer Zeit entwickelte Alternativposition   der Linken politisch wirksam zu machen. Im Zentrum stehen dabei die   Eindämmung der Finanzspekulation, die Entkoppelung der Staatsfinanzen   durch die Errichtung einer öffentlichen europäischen Bank und eine   öffentlich-rechtliche Reorganisation des Bankwesens mit demokratischer   Kontrolle ebenso wie sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zur   Sicherung der Masseneinkommen und einer gesellschaftlich sinnvollen   ökonomischen Entwicklung. Um das Thema politikfähig zu machen, gilt es,   an die Erfahrungen und Bedürfnisse der Menschen anzuknüpfen. Dabei ist   der Bezug zur Verteilungsfrage und zur sozialen Gerechtigkeit   entscheidend, womit diese Kampagne zugleich mit den Kernforderungen der   Linken verbunden werden kann. Das Motto der Kampagne »Profiteure zur   Kasse!« zielt auf diesen Zusammenhang. In diesem Prozeß geht es vor   allem auch darum, eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas zu   bewirken. Wenn die Kritik an der gegenwärtigen Finanzmarkt- und   Bankenpolitik die Financial Times Deutschland und das Feuilleton der FAZ   erreicht hat, dann zeigt dies die Brüchigkeit der neoliberalen   Hegemonie und bietet Chancen für eine Veränderung des   intellektuell-kulturellen Umfeldes.
 
 Indem Die Linke die in der   Krise zutage tretenden Widersprüche kapitalistischer Entwicklung   aufgreift, kann sie sich als eine politische Kraft erweisen, die in der   Lage ist, die verbreitete Unsicherheit ebenso wie die Kritik und die   Proteste in eine politische Alternative zu transformieren.
 
   Gerade was die notwendige Veränderung des Finanzmarkts und des   Bankensektors angeht, gibt es einen inneren Zusammenhang von   unmittelbarer Reformpolitik und systemüberwindender Perspektive. Denn es   wäre eine Illusion zu glauben, man könne mit einzelnen kleinen   Reformschritten den Finanzsektor wieder in Ordnung bringen oder gar die   Dominanz des Finanzmarktes mit all seinen negativen Auswirkungen auf die   Realwirtschaft brechen. Die ohne Zweifel notwendige Regulierung des   Finanzmarktes – inzwischen ein breiter gesellschaftlicher Konsens, ohne   daß dem aber die herrschende Politik bisher auch wirklich Rechnung   getragen hätte – reicht nicht aus, sondern sie muß mit einer   grundlegenden Reorganisation des Bankensektors verbunden werden, wie er   auch im Programm der Linken vorgezeichnet ist, nämlich eine   Bankenorganisation mit Sparkassen, Genossenschaftsbanken und   verstaatlichten und demokratisch kontrollierten Großbanken. Hier zeigt   sich, wie die Veränderung der Eigentumsverhältnisse nicht nur Postulat   ist, sondern politische Wirkung entfalten kann.   Es geht um die Demokratie   Die Art und Weise, wie die herrschende Politik mit der Euro-Krise   umgeht, ist aber nicht nur sozial und ökonomisch katastrophal, sondern   stellt auch eine erhebliche Gefahr für die demokratische Entwicklung   dar. Es ist daher Aufgabe der Linken, die Demokratiefrage in den   Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen, und dafür einzutreten, daß die   Grundlagen für eine wirkliche Sicherung und Entwicklung der Demokratie   gelegt werden. Dies wird nur dann der Fall sein, wenn die Demokratie   nicht auf den politischen Raum beschränkt bleibt, sondern auch die   Wirtschaft umfaßt. Von daher ist das Konzept der Wirtschaftsdemokratie   hochaktuell.12 Es ist zudem geeignet, konkrete Forderungen mit   weitergehender Perspektive zu verbinden. Wirtschaftsdemokratie mußte   zwar oft als ein Konzept des dritten Weges zwischen Kapitalismus und   Sozialismus herhalten und wird als Reformprojekt auch von der   Sozialdemokratie und den Gewerkschaften beansprucht, ohne daß es aber   zumindest von der Sozialdemokratie wirklich ernst genommen würde. Auch   in den Gewerkschaften ist die Haltung widersprüchlich. Für Die Linke   dagegen ist Wirtschaftsdemokratie ein wesentliches Element im   Zusammenhang mit dem Aufbau der Gesellschaft des demokratischen   Sozialismus. Schon in den Ursprüngen, nämlich in der Konzeption von   Fritz Naphtali u.a. Ende der 1920er Jahre war Wirtschaftsdemokratie auf   eine politische Steuerung der Wirtschaft und damit auf eine Ausrichtung   der ökonomischen Entwicklung an gesellschaftlichen Zielsetzungen   orientiert. Gleichzeitig setzt es sehr konkret auf der betrieblichen   Ebene an. Damit kann auch ein dialektischer Prozeß von konkreter   Reformpolitik und systemüberwindender Perspektive entstehen. Zwar ist   die Mitbestimmung ein Anknüpfungspunkt, doch geht Wirtschaftsdemokratie   deutlich darüber hinaus, indem die Belegschaften am Kapital beteiligt   werden und damit direkt auf die Unternehmenspolitik Einfluß erhalten   sollen. Belegschaftseigentum im Rahmen der Wirtschaftsdemokratie   bedeutet die Wiederaneignung der Resultate der Arbeit durch diejenigen,   die arbeiten. Zugleich weist das Konzept der Wirtschaftsdemokratie über   die betriebliche Perspektive hinaus. Zu ihr gehören volkswirtschaftliche   Rahmenplanung ebenso wie regionale und sektorale Strukturpolitik. Nur   durch Einbettung in ein gesamtwirtschaftliches, gesellschaftlich   ausgerichtetes Konzept kann der Druck der kapitalistischen Konkurrenz,   der eben auch auf Belegschaftsbetrieben lastet, aufgehoben werden.   Zentral ist die demokratische Mitwirkung – und zwar auf allen Ebenen. Es   gilt daher die Diskussion um die Wirtschafts- und Sozialräte   wiederzubeleben und sie weiterzuentwickeln.
 
 Entscheidend für   die politische Umsetzung der politischen Vorstellungen der Linken ist   allerdings auch, daß Die Linke wieder mehr Bewegung wird. Die Stärke der   Linken ist von der Existenz und dem Ausmaß sozialer Bewegungen   abhängig, zu deren Entwicklung sie aber auch selbst beitragen muß.
 
   Anmerkungen 
   1 siehe Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie   (Junius-Broschüre), in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4,   Berlin/DDR 1974, S. 62 f.
 
 2 Programm der Partei Die Linke, S. 5 (die Seitenzahlen beziehen sich auf die PDF-Datei des Programms)
 
 3 ebenda, S. 28
 
 4 ebenda, S. 30
 
 5 ebenda, S. 6
 
 6 ebenda, S. 28
 
 7 junge Welt vom 11. November 2011
 
 8 Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1/1, Berlin/DDR 1974, S. 400
 
 9 ebenda, S. 434
 
   10 In diesem Zusammenhang sei auf die Beiträge im folgenden Band   verwiesen: Internationale Forschungsgemeinschaft für Politische   Ökonomie, EU am Ende? Unsere Zukunft jenseits von Kapitalismus und   Kommandowirtschaft, Berlin 2011
 
 11 Sehr lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Leo Mayer in der jungen Welt vom 14. November 2011
 
 12 vgl. zur aktuellen Diskussion: H. Meine/M. Schumann/H.-J. Urban (Hrsg.), Mehr Wirtschaftsdemokratie wagen, Hamburg 2011
 
   Heinz   Bierbaum ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke,   Mitglied des saarländischen Landtags und Professor für   Betriebswirtschaft. Auf der Konferenz nimmt er an der Podiumsdiskussion zum Thema »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« teil.    
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