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21.09.2021, 14:11:01 / Rosa-Luxemburg-Konferenz 2018

Gesprengte Ketten

Tansania ist ein Land der Gegensätze, doch die Ideale der Gleichheit leben an der »Wiege der Menschheit« fort
Von Jenny Farrell
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Auch in Daressalams Stadtbezirk Kisutu gehören ambulante Verkäufer zum Straßenbild. Hier leben viele Menschen indischer Abstammung. Bei den beiden Frauen in der Bildmitte ist das an der Kleidung erkennbar

Die meisten Europäer reisen gewiss vor allem hierher, um auf einer Safari mit der Kamera Jagd auf Elefanten, Giraffen oder Löwen zu machen. Solche Exkursionen habe auch ich eingeplant, in erster Linie aber möchte ich in das ostafrikanische Land am Kilimandscharo, um seinen Menschen zu begegnen. Schon als die aus Los Angeles kommende Maschine vom irischen Dublin abhebt, sind die Weißen unter den Passagieren bereits klar in Unterzahl. Nach dem Umstieg in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba liegt ihr Anteil an Bord endgültig etwa auf dem an der Weltbevölkerung. Die Proportionen des Nordens, des reichen Europas, haben wir hinter uns gelassen.

Für mich ist es auch ein Wiedersehen nach Jahrzehnten mit Orten aus meiner Kindheit. Zwei Jahre lang, von 1969 bis 1971, habe ich in Tansanias größter Stadt, der am Indischen Ozean gelegenen Metropole Daressalam, gelebt. Seit 1974 ist das in der Landesmitte gelegene Dodoma die offizielle Hauptstadt, doch die Regierung hat bis heute hier ihren Sitz. Dass es mich nach Tansania verschlug, lag an meinem Vater Jack Mitchell, einem Schotten. Er war einem Ruf an die Universität von Daressalam gefolgt, um dort Literatur zu unterrichten. Mein Vater übernahm die Stelle von Professor Arnold Kettle (1916-1986), einem legendären marxistischen Literaturkritiker aus England. Dessen Arbeit setzte er unter anderem dadurch fort, dass er den Studenten Bertolt Brecht nahe und mit ihnen sogar dessen »Tage der Commune« an der Hochschule zur Aufführung brachte. Zu seinen Kollegen zählte auch der Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach (geb. 1934) von der Humboldt-Universität in Berlin, der in Daressalam als Gastprofessor wirkte.

Meine Mutter Renate war DDR-Bürgerin und meine beiden jüngeren Brüder Robin und Colin und ich selbst konnten daher die Schule besuchen, die zur Botschaft des sozialistischen deutschen Staates gehörte. Im Schnitt nur etwa drei Dutzend Kinder lernten dort von der ersten bis zur sechsten Klasse nach DDR-Lehrplan und absolvierten das Pionierleben mit allem Drum und Dran. Sie gehörten zu Diplomatenfamilien oder denen von Lehrern und Ausbildern, vor allem in technischen Bereichen und aus dem Gesundheitswesen, die nach Tansania entsandt worden waren. Auch die Kinder des damaligen tansanischen Außenministers Stephen Mhando, der mit einer Leipzigerin verheiratet war, und ein Mädchen aus Mosambik waren unter meinen Mitschülern. Meine Mutter gab während unseres Afrikaaufenthaltes Englischkurse für die Angehörigen der DDR-Diplomaten.

Ganz reibungslos verlief meine schulische Reintegration nach unserer Rückkehr nach Berlin dennoch nicht. Ich, damals 14, hinterfragte im Biologieunterricht die Beschreibung der Ethnien. Warum hatten andere dicke Lippen statt wir Europäer dünne? Waren wir denn nicht alle im Grunde Afrikaner, und wären diese nicht eher berechtigt, als Prototyp zu gelten? Meine Lehrerin war davon nicht so angetan.

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Hofpause am Mittag: Drei Grundschulen teilen sich einen Hof in der Nähe von Arusha im Norden Tansanias. Jede hat ihre eigene Uniform. Der Besuch der Volksschule für alle Kinder bildete das Fundament einer neuen Bildungspolitik

Neue Wege

Es war eine Zeit des Aufbruchs für die Völker Afrikas. Erst wenige Jahre zuvor, 1961 und 1962, hatte die britische Kolonie Tanganjika schrittweise ihre Unabhängigkeit erlangt. Drei Jahre später vereinigte sich das Land, das bis 1918 zum sogenannten Schutzgebiet Deutsch-Ostafrika gehört hatte, mit der Insel Sansibar zur Vereinigten Republik Tansania. Bis zu seinem Rücktritt 1985 stand mit Julius Nyerere (1922-1999) ein sozialistisch orientierter Lehrer und Katholik an der Spitze des jungen Staates. Er war eine wichtige Symbolfigur für den antikolonialen Kampf in ganz Afrika. Die aus einer Vereinigung der von ihm 1954 gegründeten Tanganyika African National Union (TANU) und ihrer Schwesterpartei auf der autonomen Insel Sansibar ASP 1977 hervorgegangene CCM (»Revolutionäre Staatspartei«) ist bis heute, mittlerweile deutlich pragmatischer orientiert, die bestimmende politische Kraft im Land. Seit 1992 gibt es ein Mehrparteiensystem.

Dass Nyerere noch immer als »Lehrer (auf Suaheli: Mwalimu) der Nation« in Ehren gehalten wird, ist nicht zuletzt seinen Verdiensten um das Bildungswesen zuzuschreiben. Die Daressalamer Hochschule, 1961 als Ableger der Universität von London entstanden, ist dafür ein wichtiges Beispiel. Nach Aufspaltung der Ostafrikanischen Universität erfolgte 1970 die Gründung der University of Dar es Salaam. Die Bildungsstätte sollte die angestrebte auch akademische Unabhängigkeit des Landes voranbringen.

Gut an jene Zeit erinnern kann sich Dennis Shio. Vor dem Nationalmuseum nahe des Botanischen Gartens kommen wir zufällig ins Gespräch. Der etwa 70jährige frühere Ökonom erlebte die Universität noch als ein intellektuelles Zentrum der afrikanischen Revolution. Dozenten aus der Sowjetunion, der DDR und Westdeutschland, aus Großbritannien, Irland und Kanada sind ihm im Gedächtnis geblieben. Vor allem linke Wissenschaftler aus aller Welt hätten an der Hochschule gewirkt, berichtet er. Der Lehrkörper hätte damals noch fast ausschließlich aus Weißen bestanden.

Wie sehr sich das geändert hat, kann ich in diesen Sommertagen des Jahres 2017 bei einem Besuch der Universität beobachten. Der riesige Hauptcampus liegt etwas außerhalb der Stadt. Mittendrin auf einem Hügel liegen Wohnhäuser für die Angestellten. Hier haben auch wir gewohnt. Alles sieht noch so aus, wie ich es in Erinnerung behalten habe. Bei dem einzigen Weißen, der mir auf dem Gelände der Uni begegnet, scheint es sich um einen Studenten zu handeln. Vor der Unabhängigkeit gab es so gut wie keine im Land selbst ausgebildeten Hochschulabsolventen mit einheimischen Wurzeln. Ärzte waren so gut wie nicht vorhanden. Erst unter Nyerere wurde mit internationaler Beteiligung die erste tansanische Akademikergeneration herangebildet.

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Die Hölle auf Erden: Sansibar war einer der wichtigsten Umschlagplätze im Sklavenhandel. Ein Denkmal erinnert dort an die grausamen Schicksale seiner Opfer

Das Fundament der neuen Bildungspolitik bildete die allgemeine Volksschulpflicht. Die Kinder sollten von Anfang an gemeinsam, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Glaubensgruppe oder Stammesverband, zu gleichberechtigten Bürgern erzogen werden. Das ist Realität geworden, Schulklassen, die uns begegnen, sind bunt gemischt. Einheitliche Schuluniformen machen die sozialen Unterschiede unsichtbar. Muslimische Mädchen tragen dazu ein standardisiertes Kopftuch und ihre Uniformröcke sind länger. Eine Unterweisung in Religion gibt es nicht im staatlichen Rahmen, sondern die vielen verschiedenen Gemeinschaften pflegen diese in eigenen Schulen an den Sonnabenden. Am weitesten verbreitet sind Islam, Hinduismus und das Christentum in vielen Spielarten, daneben existieren diverse Naturreligionen. In allen Volksschulen findet der Unterricht in der alle mehr als 120 Volksgruppen, mit noch mehr eigenen Sprachen, verbindenden Nationalsprache Suaheli statt.

In der Sekundarstufe, die nicht mehr unter die Schulpflicht fällt, wird ausschließlich auf Englisch unterrichtet. Englisch ist weiter wichtige Umgangssprache in den ehemaligen britischen Kolonien in Afrika und eine gute Voraussetzung, um sich im Rest der Welt zurecht zu finden. Viele hier sprechen neben ihrer Stammessprache und Suaheli auch etwas Englisch. Abgänger der höheren Schulen, die sich um einen Studienplatz bewerben oder in den Staatsdienst aufgenommen werden wollen, müssen zuvor Militärdienst leisten. Ihre Stammeszugehörigkeit soll hingegen keine Rolle spielen. Anders als in vielen afrikanischen Staaten stehen Unruhen und Konflikte zwischen den Ethnien in Tansania seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung.

Historische Zeugnisse

Ich unternehme einen Abstecher nach Sansibar. Vor allem die Küsten der Insel mit ihren Traumstränden und Hotels sind ein touristischer Hotspot. Mit dem Flugzeug ist es von Daressalam aus nur ein kurzer Hüpfer, und der Anflug über den Indischen Ozean bietet eine traumhafte Aussicht auf das Eiland. In der Inselhauptstadt, die selbst auch Sansibar heißt und auch sonst wenige besondere Merkmale aufweist, stehen auch einige Plattenbauten. Vor fast einem halben Jahrhundert wurden diese mit Hilfe von Experten aus der DDR errichtet, die hier einheimische Bauleute ausbildeten. Der eine deutsche Staat, der solidarisch auf der Seite der afrikanischen Befreiungsbewegungen stand, hat auch in der Literatur, die den Aufbau des neuen Tansania thematisiert, Spuren hinterlassen. In dem Roman »By the Sea« des bekannten tansanischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah (geb. 1948) aus dem Jahr 2001 bricht ein junger Sansibari nach Leipzig auf, um sich in der DDR beruflich fortzubilden.

Sansibar, vor allem als Gewürzinsel bekannt, war früher ein wichtiger Umschlagplatz des muslimischen Sklavenhandels – und der letzte des Kontinents. Wo einmal der größte Markt war, im Stone Town genannten, arabisch geprägten historischen Teil von Sansibar-Stadt, steht seit 1873 die Alte Anglikanische Kirche. Die Sklaven mussten in finsteren Kellern hausen, bis sich die portugiesischen Aufkäufer ihrer bemächtigten. Einige Verliese sind noch zu besichtigen. Auch ein in einer Versenkung installiertes Denkmal erinnert an die unmenschlichen Schicksale. Die Skulpturen von Sklaven darin sind mit originalen Eisenketten aneinander gefesselt. Inoffiziell lief das Geschäft mit der menschlichen Ware trotz Verbots durch die Briten 1873 bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts weiter. Die jahrhundertelange arabische Herrschaft über Sansibar beendete erst 1964 eine Revolution endgültig.

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Bei den Luguru sind die Frauen die Familienoberhäupter. Mit der Herstellung von Muddy-Cake-Stäben aus mineralstoffreicher roter Erde, als Nahrungsergänzung vor allem bei Schwangeren gefragt, verschaffen sie sich ein eigenes Einkommen

Die Leitideen für das unabhängige Tansania waren von Beginn an Freiheit (auf Suaheli: uhura) und Einheit (umoja). Beide Begriffe untertiteln auch das Staatswappen. Ein eigener Weg zu einem afrikanischen Sozialismus (ujamaa), wie ihn der damalige Staatspräsident Julius Nyerere 1967 in der Arusha-Deklaration umriss, sollte beschritten werden. Einen wichtigen Ausgangspunkt dafür bildete das gemeinsame Eigentum an den natürlichen Ressourcen und den Produktionsmitteln bei den Stammesverbänden, was auch auf nationaler Ebene verwirklicht werden sollte.

Tansania unterstützte aktiv andere afrikanische Befreiungsbewegungen und die sogenannten Frontstaaten, die in militärische Auseinandersetzungen mit dem Apartheidstaat Südafrika und dessen Vasallen verwickelt waren. Im Land befanden sich Sitze und Radiosender von Organisationen wie der mosambikanischen Frelimo, von ANC und PAC aus Südafrika oder der namibischen Swapo. 1979 marschierten tansanische Truppen in Kampala, der Hauptstadt des Nachbarstaates Uganda, ein und beendeten die blutrünstige Diktatur des »Schlächters von Afrika« Idi Amin (1928-2003), der sich ins Exil absetzen konnte. An diesen Krieg erinnern an vielen Orten Denkmäler. Tansania ist stolz auf seine fortschrittlichen Traditionen, was auch in vielen Gesprächen mit Einheimischen spürbar wird. Die heutige Politik hat viele Konzessionen an den Westen gemacht, der Privatisierungen als Vorbedingung sogenannter Entwicklungshilfe fordert. Ein neues Gesetz untersagt auch den Saatgutaustausch zwischen den Bauern, eine bewährte, jahrhundertealte Tradition. Nur noch patentierter Samen der Konzerne soll in den Boden gelangen dürfen.

Verwobene Zeitalter

Nach der Rückkehr aus Sansibar führt mein Weg von Daressalam landeinwärts. In den Siedlungen herrscht ein reger Handel und Wandel links und rechts der Straße. Verkäufer bieten an, was man so braucht: vor allem Trinkwasser in Flaschen. Fließendes oder wenigstens sauberes Wasser sind rar, vor allem auf dem Land fehlt es an Infrastruktur. Im Angebot sind auch Nüsse, Obst und alles mögliche, bis hin zu Autoreifen und Scheibenwischern. Frauen und Männer transportieren Waren, und das stets auf dem Kopf. Mehr als 200 Kilometer östlich der Metropole liegt die Region Morogoro mit dem Uluguru-Gebirge, an dessen Hängen der Stamm der Luguru siedelt. Hier liegt der Mikumi-Nationalpark, der viertgrößte des Landes. Die meisten weißen Touristen unternehmen ihre Safaris weiter nördlich, sie zieht es vor allem in den Serengeti. Zehntausenden Angehörigen der Masai droht dort die Vertreibung aus ihren angestammten Gebieten, weil diese an reiche Ausländer als Jagdreviere vermarktet werden sollen. Populär sind auch Trips zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, oder an die Ausgrabungsstätten früher Menschheitszeugnisse am Ostafrikanischen Grabenbruch.

Die Luguru praktizieren noch heute eine matriarchale Lebensweise. Die Frauen sind die Oberhäupter ihrer Familien, Besitz wird über die mütterliche Linie vererbt. Großer Besitz ist hier, wie in ganz Tansania, allerdings selten. Ich besuche das Anwesen eines Familenclans am Rande des Mikumi-Parks. Die Frauen sind beim Kochen. Über Holzkohlefeuern hängen große Töpfe. Zubereitet werden meist Gerichte aus Kassava – Süßkartoffeln –, Kochbananen und Fleisch vom Huhn oder Rind. Schnell kommen wir ins Gespräch. In ihrer dominanten Rolle sehen sie keinen Widerspruch zu dem von ihnen praktizierten Islam. Sie seien eben diejenigen, die die Kinder gebären und aufziehen, alles zusammenhalten würden. Und nähme sich ein Ehemann eine zweite Frau, erfahre ich, habe seine erste das Recht, sich ein heimliches Double zu nehmen. Auch an mich haben sie Fragen. Ob es denn stimme, dass bei uns Männer ihre Schwestern heiraten dürften? Wer hält um die Hand des oder der Zukünftigen an? Wie steht es um eine Mitgift? Die auf dem Hof herumlaufenden Kinder haben immer wieder das Bedürfnis, die helle Haut der europäischen Besucher anzufassen und auf ihre Echtheit zu überprüfen. Einer der Väter erzählt lachend, dass er selbst als Kind Weiße in der Nacht für Gespenster hielt, weil deren Gesichter in der Dunkelheit zu sehen waren.

Meine letzte Station führt mich an den zerklüfteten Südhang des Kilimandscharo. Unterhalb der Baumgrenze gedeiht auf roter Erde inmitten üppiger Vegetation ein hervorragender Kaffee. Nahe der Stadt Moshi besuche ich eine Kooperative, die der Stamm der Chagga betreibt. Neben der Produktion der Bohnen ist man auch am Projekt Kiliman Cultural Tourism beteiligt. An Touristen werden Unterkünfte vermietet und Führungen angeboten. Das schafft für die lokale Bevölkerung mehrerer Gemeinden wichtige zusätzliche Einnahmen. Traditionen werden fortgeführt und kollektiv neue Wege zum Vorteil aller beschritten. Der »Lehrer der Nation« wäre mit seinen Schülern wohl zufrieden.

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