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Aus: Feminismus, Beilage der jW vom 06.03.2024
Feminismus

Migration ist weiblich

Geflüchtete Frauen sind Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt und benötigen spezifische Unterstützung
Von Annika Geis
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Liyana Arianna Madikizela trägt einen bunten, mit Perlen besetzten Kopfschmuck und hält einen mit Perlen besetzten Stock in der Hand – traditionell von Xhosa-Bräuten bei Hochzeitszeremonien getragen

Im vergangenen Jahr ist die Zahl der hier gestellten Asylanträge auf den vierthöchsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik gestiegen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nahm über 350.000 Asylanträge entgegen, überwiegend von Menschen aus Syrien, der Türkei und Afghanistan. Mehr als 30 Prozent dieser Asylanträge wurden nach Angaben des Vereins Frauenrecht ist Menschenrecht (FIM) von Mädchen und Frauen gestellt. Sie fliehen vor Krieg, Klimawandel oder politischer Verfolgung, aber auch vor sexualisierter Gewalt, Zwangsverheiratung, Menschenhandel, Perspektivlosigkeit und Armut.

Eine bessere Zukunft und die Aussicht auf sozialen Aufstieg werden jedoch durch mangelnde Bildung erschwert, was in direktem Zusammenhang mit Armut steht. Lediglich 65 Prozent aller Flüchtlingskinder im Grundschulalter besuchen eine Schule. Im Vergleich dazu liegt der weltweite Durchschnitt von Kindern, die zur Grundschule gehen, bei 90 Prozent. Aus geschlechtsspezifischer Perspektive leiden Mädchen besonders unter den fehlenden Bildungschancen. Können arme Familien Schulgebühren, Lernmaterialien oder auch Schuluniformen nicht finanzieren, müssen in erster Linie Mädchen und junge Frauen auf Bildung verzichten und statt dessen im Haushalt unterstützen.

Übergriffe und soziale Kontrolle

In Deutschland ist fast die Hälfte der weiblichen Geflüchteten unter 35 Jahre alt. Es fällt auf, dass insbesondere Frauen aus afrikanischen Nationen alleine den beschwerlichen Fluchtweg nach Deutschland auf sich nehmen. Es ist daher dringend geboten, diesen besonders schutzbedürftigen Menschen bei der Ankunft in Deutschland eine angemessene Unterstützung zu bieten – das wird allerdings nicht immer erfüllt. So beschreibt FIM auf seiner Webseite, dass Geflüchtete aufgrund des allgemeinen Wohnungsmangels oft sehr lange in Gemeinschaftsunterkünften leben. Die Wohnsituation ist dort vor allem für Frauen schwierig. Durch die beengten Verhältnisse steige das Risiko »Gewalt, Übergriffen und sozialer Kontrolle ausgesetzt zu sein«. Die psychische Belastung erschwere zudem die Bewältigung traumatischer Erlebnisse. Und es kommt auch zu Übergriffen durch Außenstehende. So wurde Mitte Februar in Nürnberg ein früherer Sicherheitsmann einer Asylunterkunft wegen 67facher Vergewaltigung von zwei Frauen zu zehn Jahren Haft verurteilt. »Der Angeklagte hatte die Frauen massiv bedroht«, berichtete der Bayerische Rundfunk, »er habe die Macht, dafür zu sorgen, dass ihnen ihre Kinder weggenommen werden, wenn sie ihm nicht Folge leisten würden«.

Neben sexualisierter und anderer Gewalt erfahren die Frauen auch Rassismus in deutschen Unterkünften. »Viele Frauen werden durch diese Zustände (re-)traumatisiert. Ihre bereits schwierige Lage verschlechtert sich massiv«, so Elizabeth Ngari, Frauenrechtsaktivistin des Vereins Women in Exile. Der Verein gründete sich unter anderem aufgrund der rassistischen und diskriminierenden Erfahrungen von geflüchteten Frauen. Ihr Ziel ist es, Frauen für ein würdevolles und freies Leben, das in vielen Facetten von männlich gelesenen Personen geprägt und dominiert wird, zu unterstützen. Und dagegen gehen sie aktiv vor. Erst vor wenigen Tagen richteten sie sich mit einem offenen Brief an eine Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Doberlug-Kirchhain. Der Vorwurf: Rassismus, mangelnde Privatsphäre sowie erschwerter Zugang zu Bildungs- und Integrationsangeboten.

Benachteiligte Position

Auch bei dem Einstieg in den Arbeitsmarkt erfahren geflüchtete Frauen im Vergleich zu männlichen Geflüchteten mehr Ungleichheiten, was nicht zuletzt auch auf fehlende Berufsausbildungen, Sprachbarrieren oder auf die Fürsorge für mitreisende Kinder zurückzuführen ist. Geht es um Zukunftsperspektiven der geflüchteten Frauen, steht nach Untersuchungsergebnissen der Charité-Studie Study on Female Refugees (2017) der Wunsch nach Stabilität im Leben an erster Stelle, gefolgt von dem Wunsch nach Arbeit und Studium. Weiter geht aus der Studie hervor, dass 72 Prozent der 639 befragten geflüchteten Frauen aus den sechs Herkunftsländern Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, Somalia, Eritrea/Äthiopien bereits Berufserfahrungen mitbringen.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem vergangenen Jahr kommt zu dem Schluss, dass es anfänglich zwar nur geringe geschlechtsspezifische Unterschiede bei Geflüchteten gibt, die benachteiligte Position von weiblichen Geflüchteten jedoch auch fünf Jahre nach ihrer Ankunft bestehenbleibt. Sowohl bei Geflüchteten als auch bei Migranten haben Frauen demnach niedrigere Beschäftigungsquoten, wobei sich Flüchtlingsfrauen auf dem niedrigsten Beschäftigungsniveau wiederfinden. Und der sogenannte Gender-Gap wächst mit den Jahren. Die Autorinnnen resümieren, dass es mittel- und langfristig »Sprachkenntnisse, Betreuungsaufgaben, soziale Kontakte außerhalb der Familie sowie Defizite bei der körperlichen und geistigen Gesundheit sind, die für die durchweg niedrigen Beschäftigungsquoten von weiblichen Flüchtlingen verantwortlich zu sein scheinen«, – eine Form der »kumulativen Benachteiligung«.

Arme »Gastarbeiterinnen«

Diese Probleme gibt es in Deutschland schon deutlich länger. Seit den 60er Jahren kamen Frauen aus Ländern wie Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei und Jugoslawien in die Bundesrepublik, um als »Gastarbeiterinnen« in den untersten Lohngruppen beschäftigt zu werden. Wenngleich der Begriff »Gastarbeiter« weitestgehend männlich konnotiert war und noch immer ist, war tatsächlich ein großer Teil der Arbeitskräfte weiblich. Schätzungen zufolge lag der Anteil an Arbeiterinnen aus dem Ausland bei mehr als 700.000. Ähnlich wie heute lebten die Frauen auch damals bei ihrer Ankunft meist auf engstem Raum in Unterkünften. Eine Integrationspolitik mit Sprach- und Integrationskursen gab es nicht. Sie wurde erst ab den 2000er Jahren in der Bundesrepublik eingeführt.

Zwar hat sich die Wohnsituation für viele Frauen verbessert, doch wird insbesondere jetzt im Rentenalter deutlich, wie ungleich das Armutsrisiko in Deutschland verteilt ist. Die durchschnittliche Rentenzahlung an Bürgerinnen aus der Türkei liegt bei 363 Euro, die Armutsgefährdungsquote bei über 55 Prozent. Im Vergleich dazu liegt die durchschnittliche Armutsgefährdungsquote von Frauen über 65 Jahren in Deutschland bei 15,5 Prozent. Diese Erkenntnisse verdeutlichen die Relevanz von Integrations- und Bildungsangeboten für Frauen, die aus ihren Heimatländern nach Deutschland geflohen sind.

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