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Aus: XX. Rosa-Luxemburg-Konferenz, Beilage der jW vom 28.01.2015

Pyromanen löschen keine Feuer

Die NATO ist ein militärisches Instrument gegen Demokratie, Menschenrechte und Souveränität. Die Friedensbewegung kann ihre Schwäche nur in Verbindung mit anderen politischen Kämpfen überwinden.
Von Peter Mertens
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Vor etwas mehr als einhundert Jahren begann die erste globale Konfrontation zwischen den kapitalistischen Großmächten. Der Weltkrieg führte zum Tod von 20 Millionen Menschen und brachte ungeheuer viel Angst und Armut. Lenin schrieb 1916, dass dieser Krieg die Konsequenz einer wirtschaftlichen Entwicklung sei. Der liberale Freihandelskapitalismus hatte sich in seine höchste Stufe verwandelt, in den Monopolkapitalismus. Vor 1914 dominierten Wettrüsten, Militarismus und Nationalismus. Gleiches gilt auch heute für Europa und überall auf diesem Planeten.

Wir befinden uns mitten in einer der schlimmsten kapitalistischen Krisen. In Europa liegen sechs Jahre der Stagnation hinter uns, der Zerstörung der Produktivkräfte in vielen Ländern. Nur einige Volkswirtschaften haben sich wieder auf das Niveau vor 2008 hochgearbeitet. Das bedeutet aber, dass sich die Wirtschaftskrise in eine soziale und eine Umweltkrise verwandelt hat. Und sie führt zu einer Verschärfung der internationalen Widersprüche, zu einer Veränderung des Kräfteverhältnisses, zu einer immer stärker werdenden Kriegsgefahr. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber gleiche Ursachen führen zu gleichen Konsequenzen. Die sich entwickelnden kapitalistischen Länder und Mächte produzieren heute die Hälfte des Wohlstands, vor 20 Jahren waren es 35 Prozent. Das Zentrum der Weltwirtschaft verlagert sich Richtung Asien. Die wichtigsten Akteure dort sind China und Indien. Diese neuen Mächte erreichten das ohne Invasionen, ohne Expansionen. Sie haben sich in die internationale kapitalistische Weltordnung integriert, aber das ist nicht dauerhaft so. Die dominanten imperialistischen Kräfte bereiten sich darauf vor, diese Entwicklung aufzuhalten. Sie fördern gegen die neuen Rivalen überall auf der Welt Unruhen und Aggressionen, insbesondere gegen China und Russland. Sie erweitern die NATO zu einer Kraft, die weit weg von den Territorien, wo sie früher aktiv war, intervenieren kann.

Interventionsinstrument

Die imperialistischen Staaten nutzen die reaktionärsten Kräfte zur Destabilisierung ihrer Gegner. Man kann die aktuellen Konflikte nicht verstehen, ohne diesen Rahmen zu beachten. Das ist besonders wichtig im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse in der Ukraine. Bei ihrem Marsch zur Eroberung des Ostens wollen die USA den Aufstieg Russlands verhindern – und das geschieht in der Ukraine, das geschah in Georgien. Man setzte Nazigruppen ein, um in Kiew ein Regime zu installieren, das den westlichen Interessen verpflichtet ist. Das Ergebnis sind Destabilisierung des Landes und Eskalation der Konflikte auf ethnischer Grundlage. Heute sehen wir, dass die NATO das größte und stärkste Militärbündnis weltweit ist. Es wird dominiert von den imperialistischen Bestrebungen der USA. Der Pakt hat 28 Mitgliedsstaaten, wird aber auch in Kolumbien aktiv. Die Philippinen wurden ein Bündnispartner, weitere 22 Länder sind am sogenannten Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat beteiligt. Zusätzlich sind 19 Länder an einem weniger institutionalisierten Dialogprogramm beteiligt wie z. B. dem mediterranen der Kooperationsinitiative von Istanbul.

Die Schaffung der NATO kann nur verstanden werden, wenn wir die drei wichtigsten Feinde des westlichen Imperialismus nach dem Sieg über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg anschauen. Zunächst war da der wachsende Einfluss der Sowjetunion und ihres Bündnisses in Osteuropa und Ostasien. Wir müssen aber auch die inneren Feinde des Westens benennen, die starken kommunistischen Parteien, die durch ihre Rolle im antifaschistischen Widerstand Anerkennung gefunden hatten. Die dritte Drohung resultierte aus dem Unabhängigkeitskampf in den kolonialisierten Ländern. Diese drei Feinde, diese drei Kräfte hatten einen gemeinsamen Nenner, der wichtig war: Es waren autonome und unabhängige Bewegungen und sie daher eine Bedrohung der freien Investitionen von US-Kapital weltweit. Sie waren eine Bedrohung für deren freien Zugang zu Märkten, sie schränkten die Kontrolle der USA über die natürlichen Ressourcen ein.

Die NATO wurde zu einem wichtigen Instrument in der Militärstrategie gegen Demokratie, Menschenrechte und staatliche Souveränität. Seit der Auflösung des sozialistischen Blocks nutzt der Imperialismus die NATO, um die Souveränität von Staaten und auf diese Weise auch alle Arten echter Demokratie zu unterhöhlen. Wir stehen heute vor einer endlosen Kette von Kriegen und Interventionen. Um nur einige zu nennen: Irak, Jugoslawien, Somalia, Afghanistan, Sudan, Libanon, die Elfenbeinküste, Libyen, Syrien, Mali, die Zentralafrikanische Republik und die Ukraine. Die Allianz stellt sich über die UN-Charta. Souveränität ist zur Ausnahme, die Intervention zur Regel geworden.

Wirtschafts-NATO

Die Debatte zum Irak-Krieg 2003 über die Frage, wie EU-Europa sich verhalten sollte, ist fast irrelevant geworden. Heute besteht Konsens, dass eine Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auch der NATO nutzt. Das wird im Lissabon-Vertrag mit aller Klarheit gesagt. Die EU führt jetzt Verhandlungen mit den USA über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP). Das hat Hillary Clinton als eine »Wirtschafts-NATO« bezeichnet und zumindest damit hat sie recht.

Die sogenannte Doha-Agenda der WTO, der Welthandelsorganisation für die globale Liberalisierung, war wegen des Widerstandes der südlichen Länder gescheitert. Aus diesem Grunde wird nun eine Wirtschafts-NATO geschaffen. Sie soll rechtliche Bedingungen zum Nutzen der europäischen-amerikanischen Großunternehmen einführen. TTIP soll sicherstellen, dass es keine Chance für freien Handel gibt. Das Abkommen ist ein Angriff auf die Entwicklung und die Souveränität der Entwicklungsländer. Der Bereich, in dem NATO und TTIP wirken sollen, ist ein und derselbe. Sie wollen ihre Weltordnung anderen auferlegen zum Nutzen der eigenen transnationalen Unternehmen. Die Militärinterventionen der NATO zerstören Länder und beseitigen deren Souveränität. TTIP hat das gleiche Ziel in den Wirtschaftsräumen.

Probleme der Friedensbewegung

Mit Gründung der NATO 1949 rückte die Friedensbewegung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie alle wissen, dass der Weltfriedensrat 1950 seinen Stockholmer Appell für ein Verbot der Nuklearwaffen beschloss. Das geschah auf Initiative des französischen kommunistischen Physikers Juliot Curie. In kurzer Zeit gelang es, 300 Millionen Unterschriften zu sammeln. 52 Nobelpreisträger unterschrieben 1955 eine parallele Erklärung – auf Initiative von Bertrand Russell und Albert Einstein. Das geschah in sehr konservativen, rechtsgerichteten westlichen Ländern, in denen die Propaganda des Kalten Krieges, Antikommunismus und ein sehr schwacher Klassenkampf bestimmend waren. Aber die Friedensbewegung bot vielen Menschen eine Möglichkeit, aus diesem konservativen Korsett auszubrechen und sich sozialistischen Ideen zu nähern. Die Friedensbewegung erlangte eine hohe Dynamik, als sie es schaffte, sich mit anderen lokalen Kämpfen zu vernetzen – in den 60er und 70er Jahren mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA und mit den weltweiten Studentenunruhen, mit dem Protest gegen den Vietnamkrieg.

Aber die politische und organisatorische Grundlage war sehr schwach. Die Welt veränderte sich, die Friedensbewegung wurde nicht stärker. Sogenannte humanitäre Interventionen und die Beschreibung der EU als Friedenswahrer wurden breit akzeptiert. Die Friedensbewegung folgte dem zum Teil und unterstütze sogar Militärinterventionen wie die im Kosovo 1999, in Libyen 2011 oder befürworteten Militärinterventionen in Syrien – im Namen der Demokratie und der Menschenrechte. Dabei waren die Ergebnisse der Interventionen stets das Gegenteil der proklamierten Werte.

In Belgien unterscheiden wir derzeit drei Gruppen innerhalb der Friedensbewegung. Wir haben zum einen eine pazifistische Bewegung. Das sind Gruppen, die kleine Kampagnen gegen das Wettrüsten und gegen den Krieg organisieren, aber zwischen imperialistischen Kriegen und Widerstandsbewegungen keinen Unterschied machen. Einen zweiten Teil der Friedensbewegung beschreiben wir als moderat imperialistisch. Der kleinere Teil der Friedensbewegung ist in der Tat antiimperialistisch und verbindet den Kampf für Frieden mit dem Kampf gegen Kapitalismus und für Sozialismus.
Die internationale Krise führt allerdings dazu, dass es einige Veränderungen geben kann. Wir verteidigen erstens als Teil der Friedensbewegung Souveränität, Demokratie und Menschenrechte und vertreten die Meinung, dass interventionistische Politik sie untergräbt. Imperialistische Interventionen  verschlechtern immer die Lage der Menschen. Die Hauptfrage ist stets, wer interveniert und für wen. In der Praxis haben nur die NATO, die USA und andere westliche Länder die Ressourcen, um militärisch weltweit vorzugehen. Die derzeitige wirtschaftlich-politische und außenpolitische Situation wird zudem sehr stark von den Interessen des US-Kapitals bestimmt. Bittet man aber einen Pyromanen, ein Feuer zu löschen, wird man feststellen, dass das keine gute Idee ist.

Zweitens brauchen wir eigene Initiativen und verständliche Slogans. Unsere Haltung ist z. B., dass Belgien die NATO verlassen sollte und die NATO sollte Belgien verlassen. Aber ich möchte hier auch klar sagen, dass das kein einfaches Thema, sondern ein ziemlich schwieriges in unserem Land ist. Nach dem Genozid in Ruanda 1994 verabschiedete das belgische Parlament ein Gesetz, wonach Kriegsverbrecher anderer Länder vor ein belgisches Gericht gebracht werden dürfen. 2003 haben wir zusammen mit anderen gegen US-General Tommy R. Franks, den Planer des Afghanistan- und des Irak-Krieges, auf dieser Grundlage in Brüssel Klage eingereicht. Es gab sofort internationale Kampagnen. Uns wurde vorgeworfen, wir würden die US-Regierung angreifen und das NATO-Hauptquartier aus Belgien vertreiben. Das würde zu großen wirtschaftlichen Problemen und sozialen Verlusten durch Vernichtung Tausender Arbeitsplätze führen.

Uns geht es daher darum, die Frage nach der NATO so zu formulieren, dass die Bevölkerung uns versteht. Wir unterstreichen die Tatsache, dass sich die Lage der Menschen in den Ländern, die Krieg führen, verschlechtert. Die Arbeiterklasse Europas zahlt dafür, dass Bomben gekauft werden. Die rechte Regierung in Belgien wird zu Sparmaßnahmen gedrängt, aber gleichzeitig sollen die F-16-Kampfflugzeuge durch neue F 35 für sechs Milliarden Euro ersetzt werden – ein Widerspruch in sich. Und die neuen F 35 sind nicht nur teuer, sie können auch Atomwaffen transportieren. Atomwaffen, um Belgien zu verteidigen? Es ist einfach nötig, das in der Öffentlichkeit bekanntzumachen.

Dabei geht es aber um Klassenkampf. Am 6. November 2014 gab es in Brüssel die größte Demonstration seit langem. 120.000 Gewerkschafter marschierten auf, das ist eine große Zahl für uns. Sie demonstrierten gegen die Sparmaßnahmen der neuen Regierung (Applaus im Saal). Ich werde diesen Applaus an die belgischen Gewerkschafter überbringen, ganz herzlichen Dank dafür. Was nun aber für die Friedensbewegung wichtig war: Sie hat bei dieser Demonstration ihre, unsere Positionen mit Blick auf die Kampfflugzeuge deutlich gemacht.

Stay-Behind-Netzwerke

Noch ein Blick auf das Demokratieverständnis der NATO. Gestern (9. Januar 2015 - jW) hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärt, es gebe keinen Widerspruch zwischen einer offenen Gesellschaft und Sicherheitsmaßnahmen. Man müsse sich keine Sorgen um die demokratischen Rechte machen. Allerdings zeigt die gesamte Geschichte der NATO von Anfang an das Gegenteil. Ein wichtiger Teil ihrer antisowjetischen Strategie war, den Feind im Inland mit Hilfe der sogenannten Stay-Behind-Gruppen zu bekämpfen. Dabei handelte es sich um geheime Kampfeinheiten in Europa. Sie sollten angeblich für den Fall, dass es zu einer Invasion kommunistischer Länder kommt, aktiviert werden. In Wirklichkeit waren sie die ganze Zeit aktiv. Sie begannen, sogenannte Subversion in ihren eigenen Ländern zu bekämpfen. Aus Frankreich weiß man, dass die Gegner der Unabhängigkeit Algeriens viele Mitglieder der Stay-Behind-Networks in die »Organisation der Geheimarmee« (OAS) aufnahmen. In Griechenland spielten Angehörige dieser NATO-Netzwerke eine wichtige Rolle beim Militärputsch 1967, der zu einer rechten Diktatur führte. In Italien berichtete eine Untersuchungskommission im Jahr 2000, dass die sogenannte Strategie der Spannungen von den USA gefördert wurde, um die Kommunistische Partei von der Macht fernzuhalten. Dabei gab es eine Reihe von Massakern unter der Zivilbevölkerung durch Bombenattentate, die von Mitgliedern der Stay-Behind-Organisation innerhalb der staatlichen Institutionen Italiens organisiert wurden. Weitere Beispiele gibt es in Belgien und Luxemburg in den 1980er Jahren. Das Europapaparlament sah sich 1990 dazu veranlasst, die NATO und auch die USA für die Aufstellung dieser Einheiten zu kritisieren.

Das bringt uns zu einer ganz aktuellen Auseinandersetzung. Die Angriffe in Paris, diese brutalen Attacken von Salafisten, wollen alle Regierungen nutzen, um ihre Agenda durchzudrücken. Eine Stunde vor Beginn dieser Rosa-Luxemburg-Konferenz erhielt ich eine Textbotschaft, wonach die belgische Regierung in Belgien der Armee erlaubt, im sogenannten Kampf gegen den Terrorismus im Innern aktiv zu werden.

Absehbar ist, dass der globale »Kampf gegen den Terror« sich auch gegen die Gewerkschaften richtet, gegen alle, die für eine bessere Welt kämpfen. Wir müssen daher unsere internationale Zusammenarbeit verstärken. 2014 haben wir in Aachen an einer Friedenskonferenz kommunistischer und Arbeiterpartei teilgenommen. Wir stimmten überein, dass wir in verschiedensten Bewegungen in Europa zusammenarbeiten müssen. Wir sind gegen jegliche Teilnahme an internationalen Interventionen, sei es unter der Flagge der NATO, der EU oder der UN. Wir sind für nukleare Abrüstung und für einen sofortigen Rückzug von US-Waffen aus unseren Ländern. Wir treten gegen die militärische Propaganda in Schulen oder in den Bildungsinstitutionen auf.

Auch in Belgien plant die Regierung eine Offensive in den Massenmedien, mit der die Armee als »sexy« dargestellt werden soll. Wir wollen eine Gegenoffensive ins Leben rufen. Wir verlangen, dass das Militär nicht für Polizeiaufgaben eingesetzt wird. Langfristig ist Frieden aber nur dadurch zu erreichen, dass Armut und Unterdrückung beseitigt werden, dadurch, dass den Völkern gestattet wird, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Wir stehen für Demokratie, für sozialen Fortschritt, für Frieden, für nachhaltige Arbeit und Entwicklung. Wir glauben, dass Frieden dauerhaft nur garantiert werden kann, wenn er auf einer Gesellschaft fußt, die nicht auf Profit und Wettbewerb ausgerichtet ist, sondern auf Zusammenarbeit und Solidarität, also auf einer sozialistischen Gesellschaft. Ganz herzlichen Dank! 

Peter Mertens ist Vorsitzender der Partij van de Arbeid (PVDA)/Parti du Travail (PTB) Belgiens. 2013 erschien sein Buch »Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug« im Verlag André Thiele, Mainz (416 Seiten, 19,90 Euro; auch im jW-Shop erhältlich).

Das Video mit seiner Rede im Internet: https://www.youtube.com/watch?v=VwFpdoaKio8

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Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

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