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Aus: medien, Beilage der jW vom 15.12.2010

Bis auf die Knochen blamiert

Wikileaks bestätigt wieder einmal: Viele Redaktionen haben es aufgegeben, hartnäckig zu recherchieren und kritisch zu hinterfragen
Von Peter Wolter
US-Politiker sind empört, rufen gar nach der Todesstrafe für Wik
US-Politiker sind empört, rufen gar nach der Todesstrafe für Wikileaks-Begründer Julian Assange. Anhänger seiner Internetplattform wehren sich, wie dieser Demonstrant in Sydney (Australien)

Selten hat sich bürgerlicher Journalismus in Deutschland so blamiert wie nach der Veröffentlichung brisanter Informationen durch die Internetplattform Wikileaks: Die Mehrheit der Kommentatoren empörte sich, Diplomatie werde unmöglich, wenn die Vertraulichkeit diplomatischer Depeschen nicht mehr gewährleistet sei.

Eine solche Haltung illustriert aber nur, wie tief die publizistischen Standards in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren gesunken sind: Immer mehr Journalisten reden Regierenden und Wirtschaftsbossen nach dem Munde; Recherche findet nur noch selten statt. Kritische Distanz und hartnäckiges Hinterfragen werden als »Verschwörungstheorie« abgetan.

Okay, wir geben es zu: Wir sind Verschwörungstheoretiker. Und darauf sind wir sogar stolz, denn nicht zuletzt durch Wikileaks wird bestätigt, daß gesundes Mißtrauen gerechtfertigt ist: Die USA sind alles andere als ein Hort der Demokratie, die Bundesregierung ist politisch korrupt, die deutsche Justiz ist keineswegs unabhängig.

Das alles könnten die bürgerlichen Journalisten-Kollegen auch selbst herausfinden, wenn sie ihre Aufgabe ernst nähmen. Dann allerdings müßten sie sich aufraffen, auch mal nachzubohren, Themen gegen den Strich zu bürsten. Sie halten sich gern an zwei zynisch gemeinte Grundsätze des Journalismus: Durch Recherche macht man sich die schönste Story kaputt. Und: Wer zu viel weiß, schreibt schlecht.

Statt dessen fühlen sie sich gebauchpinselt, wenn der Regierungssprecher sie mit Namen anspricht, wenn sie zu Hintergrundgesprächen ins Kanzleramt geladen und dort »unter drei« zum Stillschweigen über Themen verpflichtet werden, die der Regierung oder der jeweiligen Partei peinlich sind. Sie wollen auch nicht auf Honorare für Gastbeiträge oder die publizistische Beratung von Versicherungen, Banken oder Industrieverbänden verzichten. Wer selbst korrupt ist, hütet sich, andere der Korruption zu bezichtigen. Im Gegenteil – um nicht ertappt zu werden, stellt er die Korrupten, Unfähigen und Blender als demokratische Lichtgestalten dar.

Und so werden Mythen in die Welt gesetzt und in den Köpfen verankert: Guttenberg (CSU) ist ein begnadeter Politiker, Angela Merkel (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) haben ökonomischen Sachverstand, die BRD wird von den übrigen EU-Staaten finanziell ausgenutzt, die Bundeswehr verteidigt die Freiheit, die SPD ist »sozial«, Nobelpreisträger Liu Xiaobo hat sich um Frieden bemüht. Die Erde ist eine Scheibe, aber das wissen wir ja schon alle.

»Sie lügen wie gedruckt – wir drucken wie sie lügen« – dieser Spruch ist mehr als ein Werbeslogan unserer Zeitung, er ist auch eine Art redaktionelles Programm. Lügen, Verzerrungen und Manipulationen durch Politik und Mainstream-Medien haben wir schon immer aufzudecken versucht. Die vorliegende Beilage ist zwar erst die zweite, die sich ausschließlich dem Thema »Medien« widmet – die nächste ist aber schon für den Februar avisiert. Und außerdem überlegen wir derzeit, im kommenden Jahr eine regelmäßige Medienseite zu bringen.

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Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

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